Berlin. Alle blicken bei der Regierungsbildung auf Union und SPD. Die Sozialdemokraten errichten hohe Hürden für ein Bündnis. Die CDU warnt.

„Es riecht nach großer Koalition.“ Claudia Roth spricht aus, was nicht nur ihre grünen Parteifreunde denken: Eine Woche nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche von Union, FDP und Grünen deutet vieles auf ein erneutes Bündnis der Sozialdemokraten mit der Union hin.

Auch die Bundesbürger beginnen mittlerweile, sich an den Gedanken zu gewöhnen: In einer

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Doch die SPD will sich ihre Kehrtwende vom Oppositionsführer zum Juniorpartner der Union teuer abkaufen lassen. Vor dem ersten Treffen der drei Parteichefs beim Bundespräsidenten treiben die Sozialdemokraten die Preise hoch.

• Wann fällt die Entscheidung?

Am Donnerstagabend kommen die drei Parteichefs Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Martin Schulz (SPD) zum Gespräch ins Schloss Bellevue. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will Neuwahlen verhindern und hat ausdrücklich Gesprächsbereitschaft bei den Parteien eingefordert.

Das ist ganz in Merkels Sinne: Am Samstag sprach sich die CDU-Chefin beim Landesparteitag in Mecklenburg-Vorpommern ausdrücklich gegen Neuwahlen aus. Auch aus Bayern kommt Rückenwind für eine große Koalition: „Ein Bündnis von Union und SPD ist die beste Variante für Deutschland – besser jedenfalls als ‚Jamaika‘, Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung“, sagte CSU-Chef Seehofer der „Bild am Sonntag“.

Sigmar Gabriel (SPD), geschäftsführender Außenminister, äußerte sich ebenfalls skeptisch zu Neuwahlen. Die SPD-Spitze dagegen hält sich vorerst demonstrativ alle Optionen offen, um ihre Verhandlungsposition nicht zu schwächen. Er strebe weder eine große Koalition noch eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen an, sagte Parteichef Schulz: „Ich strebe gar nix an.“ Aber auch er betont: Eine Partei in der Opposition habe kaum Gestaltungsmöglichkeiten. Spätestens beim Bundesparteitag in knapp zwei Wochen wird die SPD sich entscheiden müssen.

• Was fordert die SPD?

Die höchste Hürde haben die Sozialdemokraten in der Gesundheitspolitik aufgebaut – mit der Forderung nach einer Bürgerversicherung. Sie ist ein altes Versprechen der SPD, das bislang am Widerstand der Union scheiterte: Die Einführung einer Bürgerversicherung würde das Ende des Nebeneinanders von privaten und gesetzlichen Krankenkassen einläuten. Es wäre ein Systemwechsel, von dem sich die SPD mehr Gerechtigkeit im Gesundheitswesen verspricht: „Wir sind gegen die Zwei-Klassen-Medizin“,

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Der Plan der SPD: Die Bürgerversicherung soll für Berufseinsteiger zur Pflichtversicherung werden. Privatversicherte sollen jederzeit wechseln können. Was zur Folge hätte, dass die privaten Kassen auf Dauer vom Markt verschwinden würden.

Eine Hürde ist auch die Einwanderungspolitik. Vor allem beim Familiennachzug dürfte die Union in Verhandlungen mit den Sozialdemokraten ein Déjà-vu aus den Jamaika-Sondierungen mit den Grünen erleben: Eine weitere Begrenzung werde es mit der SPD nicht geben“, erklärte Stegner. Das zwischen CDU und CSU ausgehandelte Regelwerk zur Zuwanderung sei „hanebüchener Unsinn“. Merkel dagegen erklärte am Wochenende, sie stehe zur Einigung mit der CSU, den Flüchtlingszustrom auf 200.000 zu beschränken.

Endlich durchsetzen wollen die Sozialdemokraten zudem ihre alten Forderungen bei der Rente und im Arbeitsrecht: Es geht um das Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle, effektivere Maßnahmen gegen die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, um die Eindämmung prekärer Arbeitsverhältnisse und die Einführung einer sogenannten Solidarrente als Mittel gegen Altersarmut. Auch das lehnt die Union bislang ab.

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    • Wie reagiert die Union?

    CSU-Chef Seehofer hat bereits das erste Stoppschild aufgestellt: „Ich kann der SPD nur raten, nicht mit überzogenen Forderungen in Gespräche mit der Union zu gehen, sondern realistisch zu bleiben.“

    CDU-Vize Thomas Strobl warnte die SPD: „Wer jetzt öffentlich rote Linien auf den Boden malt, wer gigantische Hürden aufbaut – der will gar nicht“, sagte der baden-württembergische CDU-Vorsitzende dieser Redaktion. „Die SPD darf die Gespräche nicht aufs Scheitern hin anlegen.“ Der Bundespräsident habe seine Erwartungen „glasklar formuliert“. Strobl erinnerte an das schlechte SPD-Ergebnis bei der Bundestagswahl: Mit nicht einmal 21 Prozent werde die SPD nicht 100 Prozent ihrer Vorstellungen umsetzen können.

    Kurz: Niemand nennt es so, doch im Grunde sind die Sondierungen längst in vollem Gange. Denn auch CDU-Chefin Merkel hat bereits eine Liste von CDU-Kernforderungen auf den Tisch gelegt – unter anderem das Bekenntnis zu einem Bundeshaushalt ohne neue Schulden. An diesem Montag geht es im CDU-Vorstand deshalb vor allem um die Frage: Zu welchem Preis ist die dritte große Koalition unter Merkel zu haben?

    • Wer würde von einer großen Koalition profitieren?

    Zunächst einmal Angela Merkel – weil sie vorerst parteiintern gestärkt wäre. Aber wohl auch Horst Seehofer, weil er sich möglicherweise ins Berliner Kabinett retten könnte. Und darüber hinaus? Vor allem Familien dürften sich auf Entlastungen freuen: So bestehen gute Chancen auf eine Einigung zwischen Union und SPD bei der Förderung von armutsgefährdeten Kindern und bei der steuerlichen Entlastung von Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen.

    In beiden Fällen hatte die Union bereits in den Jamaika-Gesprächen weitreichende Zugeständnisse gemacht und zum Teil SPD-Ziele übernommen. Am Wochenende bekräftigte Merkel, dass die Bürger etwa durch Änderungen beim Solidaritätszuschlag entlastet werden sollten.

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      Darüber hinaus wolle ihre Partei etwas für Familien tun – durch höheres Kindergeld und höhere Kinderzuschläge für Geringverdiener. Einig sind sich Union und SPD auch bei der Einführung eines Rechtsanspruchs auf Nachmittagsbetreuung in Grundschulen und der Verbesserung der Pflege.

      Doch von einer großen Koalition würden auch diejenigen profitieren, die Union und SPD bekämpfen wollen: Mit einem Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierung wäre die AfD stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag.