Der Bundestag hat einen neuen Chef – und einen neuen Stil
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Lesezeit: 8 Minuten
Von Julia Emmrich
Berlin. Raue Töne prägen die erste Sitzung des Parlaments. Der frisch gewählte Präsident Wolfgang Schäuble mahnt zu Respekt – auch vor der AfD.
Das Klima ist rauer, der Ton schärfer. Aber die Debatte ist lebendig wie lange nicht: Der neue Bundestag liefert schon am ersten Sitzungstag eine Kostprobe, wie es in den nächsten Jahren im Parlament zugehen kann. Und es dauert keine halbe Stunde, da steht der erste NS-Vergleich im Raum.
Bevor es an diesem Dienstag überhaupt richtig losgeht, will die AfD die Regeln ändern. Sie wollen nicht hinnehmen, was die anderen Parteien kurz vor dem Einzug der AfD ins Parlament beschlossen haben: Dass nicht der älteste, sondern der dienstälteste Abgeordnete die Sitzung eröffnet. Weshalb es nun der FDP-Abgeordnete Hermann Otto Solms macht und nicht der etwas ältere AfD-Abgeordnete Wilhelm von Gottberg.
Die AfD erwähnt Hermann Göring als Reichstagspräsident
Der Antrag wird abgeschmettert. Die AfD-Leute lachen laut auf. Sie haben es nicht anders erwartet. Später aber legen sie nach – und werfen den anderen Parteien vor, sie hätten, nur um einen AfD-Mann zu verhindern, zum ersten Mal die geübte Tradition über den Haufen geworfen. Nein, nicht zum ersten Mal, korrigiert sich Bernd Baumann, Abgeordneter aus Hamburg und AfD-Fraktionsgeschäftsführer. 1933 habe Hermann Göring als Reichstagspräsident das Gleiche gemacht, um die KPD-Politikerin Clara Zetkin zu verhindern. Ein Raunen geht durch den Saal.
Der nächste Redner ist SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider. Er übergeht die AfD, greift Kanzlerin Angela Merkel (CDU) direkt an: „Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopulistische Partei hier im Bundestag haben.“ Das wiederum kann die CDU nicht auf sich sitzen lassen. Die SPD suche wohl immer noch den Schuldigen für ihre Niederlage bei der Bundestagswahl. „Aber suchen Sie nicht im Kanzleramt, suchen Sie im Willy-Brandt-Haus“, ruft Schneiders CDU-Kollege Michael Grosse-Brömer. „Das geht schneller.“ Der FDP aber lässt die Sache mit dem NS-Vergleich keine Ruhe, FDP-Fraktionsmanager Marco Buschmann tritt ans Mikrofon: „Dass Sie sich mit den Opfern Hermann Görings vergleichen … !“ Er holt Luft. „Da haben Sie sich an Geschmacklosigkeit mal wieder selbst übertroffen.“
Merkel geht grußlos an den neuen AfD-Abgeordneten vorbei
Mit der AfD wird vieles anders, das zeigen auch Kleinigkeiten: Drei Minuten vor Sitzungsbeginn kommt Angela Merkel über die Seitentreppe in den Saal. Sie muss sich durch die Grüppchen der AfD-Abgeordneten schieben, sie stehen ihr im Weg. Niemand grüßt sie. Auch Merkel geht grußlos an den Neuen vorbei.
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Den ersten Halt macht sie bei FDP-Chef Christian Lindner, den nächsten Stopp bei den Grünen. Händeschütteln mit den künftigen Koalitionspartnern? Der Eindruck, dass Jamaika längst als ausgemachte Sache gilt, wird sich später noch verstärken. Union, Grüne und FDP etwa verweigern einem Vorstoß der SPD die Zustimmung, der vorsieht, dass der Regierungschef künftig einmal pro Quartal dem Parlament Rede und Antwort stehen muss.
Die Regierung ist jetzt geschäftsführend im Amt
Merkel setzt sich an diesem Tag in die Reihen der Abgeordneten. Mit der ersten Sitzung des neuen Bundestags endet die Amtszeit der alten Regierung. Wie im Grundgesetz vorgesehen, bat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Merkel allerdings am Morgen, die Amtsgeschäfte bis zur Bildung einer neuen Regierung fortzuführen.
Ein paar Meter von Merkel entfernt bleiben die AfD-Abgeordneten weiter unter sich, nur ganz wenige reichen ihnen die Hand, darunter ein paar der direkten Sitznachbarn von der FDP. Die Neuen zeigen sich ungerührt vom kühlen Empfang. Beatrix von Storch macht ein Selfie nach dem anderen, die Fraktionschefs, Alexander Gauland im üblichen Tweed-Jackett und Alice Weidel in hellbraunen Baumwollhosen, sehen aus wie ein Paar auf Landpartie, das sich ins hohe Haus verirrt hat. Auffallend ist, wie laut die AfD ist, wenn sie klatscht: Aber es sind eben auch fast nur Männerhände, die sich hier rühren.
Eine der wenigen Frauen in diesem Block sitzt ganz hinten, in der letzten Reihe. Die fraktionslose Frauke Petry ist nicht nur politisch isoliert, sondern sitzt auch räumlich im Abseits. Ein paar Mal drehen sich ihre ehemaligen Parteifreunde zu ihr um. Weil auffällt, dass sich Petry bei allen Abstimmungen enthält. So, als gehöre sie überhaupt nicht zum politischen Betrieb.
AfD-Kandidat Glaser scheitert nach drei Wahlgängen
Bei den anderen Parteien dagegen herrscht an diesem Morgen eine Stimmung wie am ersten Tag nach den Sommerferien. Aufgekratzt, herzlich. Die meisten kennen sich seit Jahren, doch niemand freut sich so expressiv über das Widersehen wie Grünen-Ikone Claudia Roth. Selbst ein geübter Charmeur wie FDP-Mann Wolfgang Kubicki weiß gar nicht, wie ihm geschieht: Die Grüne fällt ihm um den Hals, legt dann die Hand auf seine Schulter, hält Körperkontakt, während sie mit ihm schwatzt. Drei Stunden später ist Wolfgang Schäuble neuer Bundestagspräsident und die beiden seine Vizepräsidenten – genauso wie Petra Pau von der Linken, Hans-Peter Friedrich von der CSU und – denkbar knapp – Thomas Oppermann von der SPD. Kubickis erste Amtshandlung: Er schenkt Claudia Roth seinen Blumenstrauß.
Der Auftakt zum 19. Bundestag in Bildern
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Bei der Wahl der AfD-Kandidaten für einen der sechs Stellvertreterposten dagegen kommt es am Nachmittag wie erwartet. Nach drei Wahlgängen steht fest: Albrecht Glaser, der wegen seiner Äußerungen zum Islam und zur Religionsfreiheit in der Kritik steht, bekommt zwar deutlich mehr Stimmen als es AfD-Abgeordnete gibt – doch es reicht bei Weitem nicht. Der Posten bleibt nun vorläufig unbesetzt.
Schäuble beruft sich in seiner ersten Rede auf Kant
Hinter Schäuble dagegen steht eine breite Mehrheit der Abgeordneten, parteiübergreifend setzen sie auf seine Autorität, seine jahrzehntelange Erfahrung. Aber auch sie lernen an diesem Tag, dass selbst einer wie der 75-jährige CDU-Mann vor Überraschungen nicht geschützt ist. Als Schäuble nach seiner Wahl mit seiner Rede beginnen will, ist er nicht zu hören. „Muss ich selber drücken?“, fragt er irritiert, hantiert an seinem Mikrofon herum und guckt hilfesuchend zum Balkon hoch, wo sein Vorgänger Norbert Lammert sitzt. Klar, Herr Präsident, Sie erteilen hier das Wort und Sie müssen sich das Mikro auch selbst einschalten, bedeuten ihm seinen Mitarbeiter. „Aller Anfang ist schwer“, kontert Schäuble lakonisch.
Am Morgen hatten sich Hunderte Mitarbeiter des Finanzministeriums mit einer besonderen Aktion von ihrem Chef verabschiedet: Sie bildeten draußen im Hof des Ministerium eine „Schwarze Null“ nach. Drinnen, im Parlament, findet sich Schäuble schnell ein in seine neue Rolle. Er schlägt einen strengen, aber versöhnlichen Ton an. Seine Botschaft an die Parlamentskollegen lautet: respektiert einander. Seid den Deutschen in Stil und Haltung Vorbild. „Wir müssen Streit führen, wir müssen Streit aushalten, aber nach Regeln“, sagt Schäuble.
Nach der Ruhrgebietsfärbung von Lammerts Sprache fällt sein weicher Badener Zungenschlag besonders auf. An Intellektualität aber stehen sie sich in nichts nach. Schäuble beruft sich auf Kant, auf die Verantwortung, die jeder bei seinem Handeln übernehmen müsse. Und falls das irgendeiner nicht kapiert haben sollte, sagt er es noch mal in einfachen Worten: „Prügeln sollten wir uns nicht. Auch nicht verbal.“
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Die Karriere von Wolfgang Schäuble
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Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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