Berlin/Madrid. Dogan Akhanli sitzt weiter in Spanien fest. Ihm droht die Auslieferung in die Türkei. Wie gut sind Deutsche vor Verfolgung geschützt?
Es gibt Entscheidungen, die einen Menschen den Rest seines Lebens verfolgen können. Ein Augenblick in der eigenen Geschichte, der immer wieder Schatten wirft ins Jetzt. Für
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liegt dieser Augenblick der Entscheidung im Februar 1980. In der Türkei putscht das Militär: Parteiverbote, Verhaftungen und Todesurteile folgen. Der junge Akhanli, schon länger linker Aktivist, taucht ab in den Untergrund und schließt sich einer illegalen kommunistischen Gruppe an.
„Ich hätte damals fliehen sollen“, sagt Akhanli heute. Raus aus seiner Heimat, in der Willkür herrscht. Doch er entscheidet sich für den politischen Kampf – und bleibt gemeinsam mit seiner Frau in der Türkei, auch als Mitte der Achtziger der Sohn geboren wird.
Im Mai 1985 nehmen sie ihn fest.
Geschichte wiederholt sich
Dogan Akhanli ist heute 60 Jahre alt. Er
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, seit Anfang der Neunziger lebt er in Köln, nachdem er endlich aus der Türkei fliehen konnte. Er schreibt Bücher, immer wieder auch über den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich, gewinnt Preise als Friedensstifter. Den Machthabern in Istanbul und Ankara ist Akhanli ein Dorn im Auge, damals wie heute. Sie jagen ihn. Er saß schon im Gefängnis, wurde gefoltert, kam frei. Jetzt unternimmt die türkische Justiz einen neuen Versuch, Akhanli zu erwischen. Geschichte wiederholt sich.
Seit anderthalb Monaten sitzt Akhanli in Spanien fest. Auch weil der deutsche Staat und vor allem die internationale Polizeibehörde Interpol Fehler gemacht haben. Der Fall wirft die Frage auf, wie gut Deutsche im Ausland vor politischer Verfolgung geschützt sind.
Polizisten evakuierten sogar das Hotel von Akhanli
Im Sommer war der Schriftsteller in den Urlaub nach Spanien gereist. Am Morgen des 19. August wecken Polizisten mit Maschinenpistolen Akhanli in seinem Hotelzimmer in Granada. Er sei verhaftet. Kurz müssen die Beamten aber doch noch ihren Chef anrufen, ob man den Richtigen erwischt habe – einen schmächtigen älteren Herrn in Boxershorts, ein Gesicht wie Woody Allen, der brav seinen Ausweis holt.
Die Polizei hatte einen bewaffneten und hochgefährlichen Mann erwartet und vorher sogar das Hotel evakuiert. Schließlich steht Akhanli auf der Fahndungsliste von Interpol, dort, wo international gesuchte Drogenhändler, Mörder oder Terroristen stehen. Akhanli soll an die Türkei ausgeliefert werden. Aber läuft da gerade etwas schief?
Interpol-Fahndungen nehmen seit Jahren zu
Wer verstehen will, wie der Deutsche Akhanli in Spanien ins Visier der Justiz gerät, muss kurz eintauchen in das
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. Die Polizeibehörde ist offiziell eigentlich nur ein Verein, getragen von Spenden privater Sponsoren und Beiträgen der Mitgliedsstaaten. Denn Ermittlungsbehörden aus 192 Ländern arbeiten mit Interpol zusammen. Das Ziel: Die Jagd nach gefährlichen Straftätern soll nicht an Grenzen halt machen. Die Interpol-Datenbanken helfen auch, um gestohlenen Autos oder Ausweisen auf die Spur zu kommen.
Diese Deutschen waren in türkischer Haft
Jedes Land kann Personen zur Fahndung ausschreiben, seit Jahren nimmt die Zahl der Interpol-Fahndungen zu. Deutschland sucht dort zum Beispiel nach Said Bahaji, ein mutmaßliches Mitglied der Terrorzelle, die 2001 New York angriff. Sicherheitsbehörden gehen allerdings davon aus, dass Bahaji 2013 in Pakistan ums Leben gekommen ist.
Türkisches Gericht sprach Akhanli 2010 frei
Wer als Staat eine „Red Notice“ an Interpol sendet, bittet um die Auslieferung einer Person. Fast 300 deutsche Staatsangehörige stehen im Visier von Interpol (Stand: 31. August). Allein 225 Deutsche sind bei der weltweit agierenden Behörde mit einer sogenannten „Red Notice“ zum Zweck der Auslieferung in einen fremden Staat gespeichert. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Grünen im Bundestag hervor, die dieser Redaktion vorliegt.
Im Herbst 2013 schickt die türkische Justiz zwei Seiten an die Interpol-Zentrale im französischen Lyon: „Red Notice“. Sie wollen Akhanli. Wieder einmal.
Der Vorwurf: Er soll Ende der 1980er-Jahre als Mitglied einer linksterroristischen Gruppe an einem Raubüberfall beteiligt gewesen sein, bei dem ein Mann ermordet wurde. Schon 2010, als Akhanli erstmals nach seiner Flucht in die Türkei gereist war, um seinen todkranken Vater zu besuchen, nahm ihn die Polizei fest. Ihm wurde der Prozess gemacht. Beweise lagen keine vor, das Gericht sprach ihn frei. Der Vater starb, während Akhanli in Untersuchungshaft saß.
Freispruch wurde 2013 aufgehoben
Doch 2013 hob die Staatsanwaltschaft diesen Freispruch auf. Nun liege zudem der Vorwurf der Vergewaltigung gegen ihn vor. Deutsche Justizbehörden und die Bundesregierung sind sich sicher: Der Prozess ist politisch motiviert, eine Kampagne. So wie viele Verfahren gegen unliebsame Gegner in der Türkei unter Autokraten Recep Tayyip Erdogan. Aber ist Akhanli auch im Exil in Gefahr?
Mehrfach stand Interpol in den vergangenen Jahren in der Kritik. Menschenrechtsgruppen und Journalisten hatten recherchiert, dass die Justizbehörden undemokratischer Regime die Polizeibehörde für die Verfolgung politischer Gegner missbrauchten. Mehrere Missbrauchsfälle belegt ein ausführlicher Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahr 2015.
Die ägyptische Militärregierung suchte ehemalige Abgeordnete der Muslimbruderschaft per „Red Notice“. Russland hat Umweltaktivisten auf die Interpol-Liste gesetzt. Anfang August hatten die Spanier auf Betreiben der Türkei bereits einen schwedischen Journalisten türkischer Herkunft festnehmen lassen: Hamza Yalçın. Ihm werfen türkische Behörden Präsidentenbeleidigung vor. Laut Bundesregierung wurden zwischen 2007 und 2013 allein auf Gesuch der Türkei zehn Deutsche im Ausland aufgrund einer Interpol-Fahndung festgenommen wurden. Erst auf Dringen von Diplomaten kamen sie frei.
Politisch motivierte Fahndung laut Interpol-Statuten verboten
Auch im Fall Akhanli versucht es die Bundesregierung mit Diplomatie. Er kommt kurz nach seiner Festnahme in Spanien frei, muss allerdings bis zur Entscheidung über seine Auslieferung im Land bleiben. Außenminister Gabriel und Justizminister Maas schicken einen Brief an ihre spanischen Kollegen. Spanien möge berücksichtigen, dass Akhanli politisch verfolgt werde. Zeitgleich setzen sich mehr als 50 Schriftsteller mit einer Petition für ihren Kollegen ein.
Mittlerweile hat auch Interpol den türkischen Suchauftrag zu Akhanli gelöscht. Ohnehin prüft die Polizeibehörde mit eigenen Juristen jeden Fall in der Regel selbst. Politisch motivierte Fahndungen sind nach Interpol-Statuten verboten. Doch häufig muss sich die Behörde auf Informationen des fahndenden Staates verlassen. Offenbar hat das System zum Schutz Unschuldiger Lücken. Das zeigt auch der Fall Akhanli.
Deutsche Behörden informierten Akhanli nicht über Fahndung
Am 21. Oktober 2013 erfährt das Bundeskriminalamt (BKA) von dem Fahndungsgesuch der Türkei. Kurz danach liefern türkische Ermittler sogar den Aufenthaltsort Akhanlis an die deutsche Polizei. Das BKA lässt den Fall vom Außenministerium und dem Bundesamt für Justiz prüfen, so sieht es das Gesetz vor. Die deutschen Behörden kommen zu dem Schluss: Sie werden Akhanli nicht ausliefern. Es bestünden „Bedenken“ zur „Red Notice“ von Interpol.
Ein Jahr später, im Dezember 2014, haken die türkischen Staatsanwälte nach. Wieder weisen die deutschen Stellen die Forderung nach Auslieferung ab. Polizei und Justiz in Deutschland schützen den Deutschen Akhanli, die Kontrolle funktioniert. Nur: Sie berichten Akhanli zu keinem Zeitpunkt, dass die türkische Justiz weltweit nach ihm fahndet.
Akhanlis Anwälte kritisieren deutsche Behörden
Dessen Anwalt Ilias Uyar übt scharfe Kritik. „Wäre mein Mandant von den Auslieferungsbemühungen der Türkei informiert gewesen, hätte er sich schützen können.“ Mehrfach war der Schriftsteller in den vergangenen Jahren im Ausland unterwegs. Jetzt habe die Polizei in Spanien offenbar einen Tipp bekommen, dass sich Akhanli in Granada aufhalte, sagt Anwalt Uyar. Die Bedenken Deutschlands an dem Verfahren der Türkei gegen Akhanli hat Interpol offenbar nie in dem Fahndungsaufruf vermerkt. Die Spanier hielten ihn für einen Schwerkriminellen.
Auch die Grünen-Innenexperten Irene Mihalic und Volker Beck üben Kritik. „Deutschland sollte sich schnell dafür einsetzen, dass die europäischen Staaten sich möglichst bald auf ein Verfahren einigen, das für Betroffene mehr Rechtssicherheit schafft“, sagt Mihalic. In einem gemeinsamen Europa könne ein Mensch nicht in Deutschland sicher und in einem anderen EU-Staat wie Spanien einer Gefahr ausgesetzt sein. Beck hebt hervor, die deutschen Behörden hätten Akhanli warnen müssen.
Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan
Akhanli bleibt im „Goethe Institut“ in Madrid
Kürzlich diskutierten ranghohe Sicherheitsbeamte der EU-Staaten in Brüssel den Umgang mit Interpol-Fahndungen. Ergebnis: offen. Auch das Justizministerium in Berlin sagt nur, man prüfe derzeit, wie künftig gehandelt werden müsse. Interpol in Lyon antwortete bisher nicht auf Anfrage dieser Redaktion.
Die Entscheidung über Akhanli liegt jetzt in der Hand der Spanier. Akhanli lebt so lange im Gästezimmer vom „Goethe Institut“ in Madrid, hat dort einen Schreibtisch, einen Fernseher und eine Kochnische. Am Telefon erzählt er, dass er keine Angst habe. Er rechne nicht mit einer Auslieferung. „Ich flüchte mich ins Schreiben“, sagt Akhanli. Das helfe ihm, die Brisanz seiner Situation auszublenden. „Das Verdrängen habe ich mir damals schon antrainiert, als ich in der Türkei im Gefängnis saß.“
Theaterstück erzählt von Akhanlis Folter
Mitte der Achtziger, als mit der Militärregierung die Jagd des türkischen Staates auf Dogan Akhanli begann, hätten sie ihn in Haft gefoltert, erzählt Akhanli. Erst mit Schlägen, dann fesselten sie seine Hände hinter dem Rücken und hängten ihn daran an der Zellwand auf. Die Wärter führten sogar Akhanlis Frau und den 16 Monate alten Sohn in den Raum. Heute sagt Akhanli: „Ich hätte vorher fliehen sollen.“ Wegen seiner Frau. Wegen des Kindes.
Mehr als 30 Jahre danach spielen diese Szenen von damals jetzt in dem Theaterstück „Istanbul“ in Akhanlis Heimatstadt Köln eine Rolle. Es geht darin um die Rivalität zwischen Gegnern und Fans von Erdogan, die sich auf der Bühne gegenüberstehen. Auch Dogan Akhanli war mit dabei, auf der Seite der Gegner, und erzählte dem Publikum von seiner Verfolgung und Folter. Jetzt, wo er in Spanien festgehalten wird, soll das Theaterstück noch einige Mal aufgeführt werden. Akhanli kann nicht dabei sein. Sein Sohn will die Geschichte des Vaters nun auf der Bühne erzählen.