Berlin . Erst Anfang September wurde Diyar Agu 18 Jahre alt. Jetzt träumt er als einer der jüngsten Direktkandidaten vom Einzug ins Parlament.
An seinem 18. Geburtstag war für Diyar Agu endlich einmal Pause. Ein ganzer Tag ohne Termine, ohne Interviews, ohne Kameras, nur abends eine Party. Rund zwei Wochen vor der Wahl war es der erste wirklich freie Tag seit langem für Agu, der im Frühjahr noch beschäftigt war mit Abiturprüfungen und der Organisation des Abiballs. Als seine Altersgenossen ihren Sommer dann nutzten, um zu feiern oder endlich einmal auszuschlafen, begann für den Abiturienten der Wahlkampf.
Podiumsdiskussionen, Fernsehtermine, Infostände in Fußgängerzonen: Seit Wochen ist Agu unterwegs und kämpft um Stimmen, immer im Hemd, die kurzen Haare hoch gegelt. Der 18-Jährige aus dem nordrhein-westfälischen Gummersbach hat sich Großes vorgenommen: Er will für die Linke in den Bundestag. Unter den Direktkandidaten jener sieben Parteien mit guten Chancen auf den Bundestagseinzug ist er der jüngste.
Erst zwei Wochen vor der Wahl volljährig
4828 Bürger kandidieren bei der Bundestagswahl in diesem Jahr, so viele wie seit 1998 nicht mehr. Die meisten von ihnen sind Männer, ein Großteil im mittleren Alter – die Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen ist in diesem Jahr am stärksten vertreten.
Viele der Bewerber haben Familien und Karrieren, als Anwälte zum Beispiel oder Unternehmer. Agu hat Abitur, auch das noch nicht allzu lange. Geboren im September 1999, ist er erst gute zwei Wochen vor dem Wahlsonntag volljährig geworden, gerade rechtzeitig, um wählen zu können – und selbst gewählt zu werden.
Schon mit 13 wollte Agu in den Bundestag
Dafür tritt Agu als Direktkandidat der Linken im Oberbergischen Kreis im Süden Nordrhein-Westfalens an. Noch nie hat ein Linken-Kandidat hier auch nur sieben Prozent der Stimmen geholt, die CDU hält den Wahlkreis seit 1949 fast durchgängig. Das Direktmandat ging seit 2002 in jeder Wahl an den Unions-Kandidaten Klaus-Peter Flosbach. „Es wird schwierig, den Wahlkreis direkt zu holen“, weiß Agu.
Versuchen will er es trotzdem. Seit er 13 ist, träumt er davon, in den Bundestag einzuziehen. Auch damals, 2013, war Bundestagswahlkampf. Obwohl noch weit entfernt vom Stimmrecht, hörte Agu aufmerksam zu, was die einzelnen Parteien zu sagen hatten. Ihm gefiel, was er bei der Linken hörte. „Mir ist besonders Gregor Gysi aufgefallen“, sagt er heute, „weil er dieselben Ansichten über Ungerechtigkeiten hat wie ich.“
Wagenknecht und Bartsch für die Linke
Kampf für Gerechtigkeit treibt ihn an
Kinderarmut, ungleiche Bildungschancen, staatlich sanktionierte Gewalt: Was er als Ungerechtigkeiten empfindet, will der 18-Jährige mit kurdischen Wurzeln nicht einfach hinnehmen – auch, sagt er, weil ihn die Geschichte seiner Familie für Unrecht sensibilisiert habe.
Die Großeltern stammen aus dem Südosten der Türkei. „Die wissen genau, was es heißt wenn Dörfer niedergebrannt werden, was es heißt verschleppt zu werden oder zu fliehen“, sagt Agu und schlägt – ganz Wahlkämpfer – rasch die Brücke von individuellen Geschichten zu den großen Problemen. „Ich stelle mich an die Seite der schwächsten in der Gesellschaft“, sagt er, „für die will ich kämpfen.“
Seinen Altersgenossen will er zeigen: Politik kann cool sein
Und so engagiert er sich, privat, zum Beispiel mit einem Benefiz-Konzert für Flüchtlinge, und parteipolitisch. Agu tritt 2015 in die Linke ein, wird Sprecher des Ortsverbands Gummersbach. Er versucht, seine Themen an die Öffentlichkeit zu bringen – und stößt an die Grenzen der Möglichkeiten in der Lokalpolitik. Ein Praktikum bei Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) bestätigt, was er geahnt hat: Wenn er etwas ändern will, muss er in den Bundestag.
Dass er Jahrzehnte jünger ist, glaubt Agu, ist dabei eher Vorteil als Hindernis. „Ich hoffe, ich habe einen kleinen Bonus, weil ich so jung bin“. Auch seine Unterstützer seien vor allem junge Wähler – auch, wenn sie selbst nicht links seien. „Das hat mich auch überrascht“, sagt er. „Aber junge Leute helfen sich gegenseitig, weil sie andere junge Menschen in der Politik wollen.“ Mit seiner Kandidatur will er auch andere Teenager dazu bringen, in der Politik mitzumischen. „Ich will zeigen, dass es cool ist, sich politisch zu engagieren – egal in welcher Partei.“
Und was, wenn es nicht klappt?
Was übrig bleibt an Zeit, zwischen Auftritten mit Partei-Granden wie Pau und Grundsatzdiskussionen über die Agenda 2010, verbringt der Teenager mit seinen Freunden und der Familie, spielt Videospiele, oder schaut Sport im Fernsehen. „Ich habe nicht viel Freizeit“, sagt Agu. „Aber die versuche ich so einzuteilen, dass ich meinen Freunden und meiner Familie gerecht werde.“
Und wenn es am Ende trotz der vielen Arbeit nicht für den Bundestagseinzug reicht? Die Chancen auf ein Direktmandat sind gering, auf der Landesliste belegt er den wenig aussichtsreichen 24. Platz. Der Kandidat weiß das – und hat einen Plan B. Für ein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Aachen sei er schon eingeschrieben, sagt Agu.
In vier Jahren der nächste Versuch
Falls er doch in den Bundestag komme, will er versuchen, beides unter einen Hut zu bringen. „Aber ich werde mich vor allem auf mein Mandat konzentrieren.“ Dafür hätten ihn die Wähler dann ja auch gewählt.
Tun sie es nicht, werden seine politischen Ambitionen damit nicht enden. Diyar Agu will weiterhin versuchen, die Welt zu ändern – und sich in vier Jahren wieder um ein Mandat bewerben.