Berlin. Die Linke-Spitzenkandidatin Wagenknecht denkt in einigen Belangen nicht mehr wie mit Mitte 20. Wie sich ihre Ansichten verändert haben.

Ihren Lebensmittelpunkt hat

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ins Saarland verlegt, mit ihrem Mann Oskar Lafontaine lebt sie in der Ortschaft Merzig. Im Interview äußert sie sich tief enttäuscht von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Er habe die Chance verpasst, zu klassisch sozialdemokratischer Politik zurückzukehren.

Frau Wagenknecht, warum will die Linkspartei im Bund partout keine Regierungsverantwortung übernehmen?

Sahra Wagenknecht: Wie kommen Sie darauf? Wir wollen die Politik in diesem Land verändern. Es ist dringend notwendig, den Sozialstaat wiederherzustellen und den Niedriglohnsektor einzudämmen. Wenn wir dafür Partner haben, wollen wir selbstverständlich regieren. Das Problem ist, dass die SPD der Union immer ähnlicher geworden ist. Mit Rentenkürzungen und der Förderung ungesicherter Jobs macht sie Politik gegen ihre Wähler.

Sie stellen Bedingungen, die keine vernünftige Partei erfüllen kann – etwa den Verzicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Wagenknecht: Unser Wahlprogramm enthält überwiegend klassisch sozialdemokratische Forderungen. Willy Brandt ist als Bundeskanzler mit dem Credo angetreten: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Wenn die SPD wieder an die gute Tradition der Entspannungspolitik anknüpfen würde, wären wir Partner.

Zur Zeit von Willy Brandt war die Welt eine andere.

Wagenknecht: Hat die Welt sich verbessert, seit wir unsere Soldaten in internationale Kriege schicken? Haben diese Kriege irgendetwas Positives bewirkt? Die Probleme dieser Welt lassen sich nicht mit Bomben lösen. In Afghanistan wird seit 16 Jahren Krieg geführt, und die Taliban sind stärker, als sie vorher waren.

Wollen Sie islamistische Terroristen gewähren lassen?

Wagenknecht: Es geht darum, den Terroristen ihren Zugang zu Geld und Waffen abzuschneiden. Es ist bekannt, dass die Golfdiktaturen, insbesondere Saudi-Arabien, islamistische Terrorbanden finanzieren und hochrüsten. Trotzdem liefern Kanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel ihnen Waffen und betrachten sie als wichtige Partner. Die deutsche Außenpolitik ist heuchlerisch.

Ihre Außenpolitik findet keine Partner. Die SPD hält große Teile der Linkspartei für nicht regierungsfähig.

Wagenknecht: Die SPD hat offenkundig kein Interesse, mit uns zusammenzuarbeiten, das hat Gabriel gerade wieder bestätigt. Offenbar fühlt sie sich näher bei der Union oder der FDP.

Sehen Sie noch eine Siegchance für den SPD-Kandidaten Schulz?

Wagenknecht: Schulz hatte eine große Chance. Am Anfang haben viele mit seiner Nominierung die Hoffnung verbunden, dass er die SPD zurück zu sozialdemokratischer Politik führt. Aber er hat diese Hoffnungen enttäuscht. Wer sich noch nicht einmal mehr traut, eine Vermögenssteuer für Superreiche zu fordern oder Leiharbeit und Rentenkürzungen infrage zu stellen, signalisiert, dass er auch nichts Wesentliches verändern will. Tiefpunkt war der SPD-Parteitag, auf dem unter dem schönen Slogan „Zeit für Gerechtigkeit“ ausgerechnet Ex-Kanzler Schröder als Starredner gefeiert wurde, also der Mann, der für den größten Sozialabbau der bundesdeutschen Geschichte steht. Drastischer kann man die eigene Unglaubwürdigkeit nicht ins Schaufenster stellen. Eine rot-rot-grüne Bundesregierung ist nicht an uns gescheitert. Und ich bin überzeugt: Nur ein sehr starkes Ergebnis der Linken kann bewirken, dass die SPD sich eine Neuauflage der großen Koalition nach der Wahl nicht traut und vielleicht tatsächlich beginnt, ihren Kurs zu überdenken.

Dritte Kraft will auch die AfD werden, die mit der Linkspartei durchaus Übereinstimmungen hat - etwa in der Haltung zu Russland …

Sahra Wagenknecht spricht auf Wahlkampftour.
Sahra Wagenknecht spricht auf Wahlkampftour. © dpa | Daniel Reinhardt

Wagenknecht: Wenn die AfD Privatisierungen und Aufrüstung fordert und Vermögens- und Erbschaftsteuern ablehnt, gibt es große Übereinstimmungen mit CDU/CSU und FDP. Komischerweise wird das nie thematisiert. Wir brauchen ein besseres Verhältnis zu Russland.

Ist es vernünftig, die Sanktionen aufzuheben, die gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine verhängt wurden?

Wagenknecht: Die Russland-Sanktionen sind unsinnig. Sie schaden unserer Wirtschaft – und lösen kein Problem.

Sie wollen die Sanktionen aufheben, ganz gleich, ob das Friedensabkommen von Minsk respektiert wird?

Wagenknecht: Das Abkommen muss von beiden Seiten, der russischen und der ukrainischen, akzeptiert werden. Da sollte man Druck machen. Aber die Sanktionen helfen dabei nicht.

Die Annexion der Halbinsel Krim nehmen Sie hin?

Wagenknecht: Die Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig, genauso wie der Irakkrieg oder der Syrien-Einsatz. Fordern Sie jetzt auch Sanktionen gegen die USA?

Fehlt nur noch, dass Sie den russischen Präsidenten Putin als lupenreinen Demokraten bezeichnen.

Wagenknecht: Russland ist ein Oligarchen-Kapitalismus mit großer Ungleichheit und autoritären Strukturen. Das hat mit unseren gesellschaftlichen Idealen nichts zu tun. Aber die USA wird diesem Modell unter Trump immer ähnlicher.

Wem vertrauen Sie mehr – Trump oder Putin?

Wagenknecht: Das ist eine unsinnige Frage. Beide machen imperiale Politik. Der Unterschied ist, dass Putin die russische Einflusssphäre verteidigt, während die USA ihre Einflusssphäre seit Ende des Kalten Krieges immer weiter ausgedehnt haben. Durch US-Kriege wurden der Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika destabilisiert. Trump droht Nordkorea inzwischen offen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das ist höllisch gefährlich.

Ist es unbedenklich, wenn Altkanzler Schröder in den Dienst des russischen Staatskonzerns Rosneft tritt?

Wagenknecht: Ich finde es sehr bedenklich, wenn Politiker auf diese Weise in die Wirtschaft wechseln. Meist werden sie dann belohnt für Gefälligkeiten, die sie einer Branche oder einem Unternehmen in ihrer aktiven Zeit erwiesen haben – das ist Korruption nach dem Motto: Bezahlt wird später. Auch wenn Politiker später ihre Kontakte nutzen, um Lobbyarbeit zu machen, schadet das der Demokratie. Das gilt aber nicht nur beim Wechsel in ein russisches Unternehmen.

Rosneft ist schon ein besonderer Fall.

Wagenknecht: Ich fände es nicht viel sympathischer, wenn Schröder in den Aufsichtsrat eines amerikanischen, türkischen oder auch eines deutschen Konzerns gegangen wäre. Wir müssen Regeln schaffen, um diesen Drehtüreffekt zwischen Politik und Wirtschaft zu beenden. Denn er hilft großen Unternehmen, ihren Interessen immer wieder politisches Gewicht zu verschaffen. Nehmen wir die Automobilindustrie, wo Frau Merkel alte Bekannte ihrer Regierung trifft. Kleine und mittlere Unternehmen haben solche Möglichkeiten nicht. Daher fordere ich: Wer ausscheidet aus der Politik, sollte nicht in Unternehmen wechseln dürfen, die in seinem Verantwortungsbereich lagen.http://Rosneft-Posten-_Altkanzler_Schröder_lässt_sich_nicht_beirren{esc#211765005}[video]

In einigen Bundesländern wird die Linkspartei immer noch vom Verfassungsschutz beobachtet. Wie wollen Sie die Sicherheitsbehörden davon überzeugen, dass Sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen?

Wagenknecht: Der Verfassungsschutz hat offenbar bis heute nicht begriffen, wofür er da ist. Wer im Zeitalter des Terrorismus Kapazitäten hat, um sich Publikationen etwa von Gewerkschaftern in der Linken anzugucken, stellt sich ein blamables Zeugnis aus. Im Übrigen: Die Bundesrepublik ist nach dem Grundgesetz ein sozialer Bundesstaat. Wer die Verfassung schützen will, hätte gegen die Agenda 2010 vorgehen müssen.

Wollen Sie deshalb den Verfassungsschutz abschaffen?

Wagenknecht: Wir müssen den Verfassungsschutz so aufstellen, dass er seinen Job macht. Die Beobachtung der Linken war immer nur ein Mittel der politischen Auseinandersetzung, um uns zu bekämpfen.

Der Inlandsgeheimdienst interessiert sich vor allem für die Kommunistische Plattform der Linkspartei, die Sie seit einiger Zeit nicht mehr mit Ihrem Besuch beehren. Ist das eine Form der Distanzierung?

Wagenknecht: Ich bin seit Jahren nicht mehr Mitglied der Kommunistischen Plattform, weil ich in einer Reihe von Fragen schlicht andere Ansichten vertrete als mit Mitte 20. Das gilt vermutlich für viele Menschen.

Welche Ihrer Ansichten haben sich geändert?

Wagenknecht: Ich halte den Kapitalismus nach wie vor nicht für das letzte Wort der Geschichte. Aber früher war ich der Meinung, dass man Märkte weitgehend abschaffen und Wirtschaft planen kann. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es viele Bereiche gibt, in denen Märkte unverzichtbar sind. Allerdings haben wir heute immer mehr Marktmacht und immer weniger fairen Wettbewerb. Und es gibt Bereiche, die darf man nicht dem Markt überlassen.

Zum Beispiel?

Wagenknecht: In den Bereichen Gesundheit oder Wohnen hat man den Markt entfesselt. Das Ergebnis ist fatal. Es geht nur noch darum, Rendite zu machen. Ich bin auch dagegen, über öffentlich-private Partnerschaften die Infrastruktur zu finanzieren. Das wird nur teurer und der Staat macht sich erpressbar. Die Pleite bei der Autobahn 1 hat gezeigt: Solche Dinge sollte der Staat lieber gleich selbst machen.

Glauben Sie im Ernst, dass der Staat alle wichtigen Aufgaben besser erfüllen kann als private Unternehmen?

Wagenknecht: Wer sagt denn das? Es geht nicht um alle Aufgaben, sondern um existenzielle Aufgaben. Das Recht auf eine bezahlbare Wohnung und gute gesundheitliche Versorgung ist existentiell. Auch in anderen Bereichen funktioniert der Markt offenbar nicht. Früher war die Lufthansa eine Staatsairline, die Preise waren relativ hoch, aber sie flog verlässlich und bot ihrem Personal gute Konditionen. Jetzt ist es eine Aktiengesellschaft, die durch die Übernahme von Air Berlin ihr Monopol zurückgewinnen könnte. Dann werden die Preise womöglich höher sein als früher.

Beim Berliner Großflughafen BER zeigt der Staat, dass er es nicht besonders gut kann.

Wagenknecht: Der Bau von Flughäfen ist eine öffentliche Angelegenheit. Klar hat der Staat im Fall von BER völlig versagt, aber da muss man sich mit den Verantwortlichen auseinandersetzen.

Wenn die SPD auch bei dieser Bundestagswahl scheitert– stellt die Linkspartei beim nächsten Mal einen eigenen Kanzlerkandidaten auf?

Wagenknecht: Es ist tatsächlich so, dass viele uns fragen, warum wir keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Die Alternative zwischen Schulz und Merkel ist keine wirkliche Alternative, und das macht den Wahlkampf so langweilig. Aber man kann eben schlecht als Zehn-Prozent-Partei den Kampf ums Kanzleramt aufnehmen.

Das kann sich ändern.

Wagenknecht: Natürlich fände ich es gut, wenn die Linke irgendwann den Kanzler stellen würde. Und, ehrlich gesagt: Wenn die SPD allen Ernstes nach einer Wahlniederlage noch einmal in eine große Koalition geht, weiß ich nicht, wo sie dann in vier Jahren steht. Man muss ja nur nach Frankreich oder in die Niederlande blicken, wo die Sozialdemokratie auf einstellige Werte abgestürzt ist. Wir leben in einer Zeit, in der sich vieles schnell verändert. Lieber wäre mir, die SPD würde zu ihren Wurzeln zurückfinden und wir hätten in ihr einen Partner für eine sozialere Politik.

In der sechsten Folge erscheint am kommenden Sonnabend ein Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.