Berlin. In Europa verschwindet langsam die Mittelschicht. Ein Dokumentarfilm für Arte zeigt die Schattierungen des wachsenden sozialen Elends.

Nicht nur in Deutschland oder Frankreich wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. In ganz Europa arbeitet rund ein Drittel aller Beschäftigten in ungesicherten oder unterbezahlten Arbeitsverhältnissen: Obwohl die Menschen Arbeit haben, kommen sie nur knapp über die Runden, selbst dann noch, wenn sie mehrere Jobs gleichzeitig annehmen. Frauen sind besonders betroffen, Rentnerinnen zumal: 20 Prozent von ihnen leben unter der Armutsgrenze.

Armut, aber vor allem das damit einhergehende Gefühl des sozialen Ausschlusses, führt schnell zu Zweifeln an der Demokratie: Populistische Parteien erhalten mehr Zulauf, eine Anti-Europa-Stimmung macht sich breit. Die „politische Kraft der Unzufriedenen“ teilt sich dabei in viele Lager, noch. Würde sie sich zusammenschließen, könnte sie den sozialen Frieden in Europa sprengen.

Die Mittelschicht schrumpft, die Unsicherheit wächst

Soweit die These, die Karin de Miguel Wessendorf und Valentin Thurn zu ihrem Film „Abschied von der Mittelschicht – Die prekäre Gesellschaft“ , den Arte heute Abend zeigt, inspiriert haben dürfte. Und die sie durch Aussagen von Wirtschaftswissenschaftlern, wie dem Briten Guy Standing, bestätigen lassen: Die neue Klasse des Prekariats wächst.

Die Ursachen für die soziale Schieflage liegen drei Jahrzehnte zurück, in der Liberalisierung des Marktes: Seit der Kündigungsschutz gelockert wurde, seit Arbeitnehmer in Europa überallhin entsendet werden können, sinken Standards und Löhne. Die Menschen werden verunsichert, wie lange sie noch in den Verhältnissen überleben können, die sie gewohnt sind.

Werde ich nächsten Monat noch meine Miete zahlen können?

Karin de Miguel Wessendorf und Valentin Thurn wollten offenbar wissen, welche konkreten Auswirkungen eine wirtschaftliche Zitterpartie auf das Alltagsleben der Menschen hat. So reisten sie für ihren Film durch die Lande – nach Köln, Duisburg, Nordfrankreich, Schweden und Barcelona – und besuchten viele arme, ordentliche, hart arbeitende Bürger, jung und alt.

Die meisten gehörten früher der Arbeiterklasse an und wählten zum Beispiel SPD. Heute gehören sie zum Niedriglohn-Sektor und können nur noch denken: Werde ich nächsten Monat, nächstes Jahr noch meine Miete bezahlen können? Und was ist, wenn ich in Rente gehe?

Film zeigt soziales Elend – aber nicht die Ursachen

In dem vom RBB produzierten Film bekommen diese Leute viel Raum. Nur ist das auch schon das Beste, leider, was sich über den Film sagen lässt. Der Film verschenkt sein Thema, schon weil er sich verzettelt. Ohne Fokus, ohne Ziel sammelt er stattdessen diffuse Stimmungen und diverse Unzufriedenheiten ein.

Er bebildert quasi nur das soziale Elend, in fast allen seinen Schattierungen – als wollte er unbedingt zeigen, dass ein Leben in Armut in Europa kein individuelles Pech ist, sondern ein strukturelles, gesellschaftliches Problem. Die unterschiedlichen Ursachen, die in den unterschiedlichen Regionen zum Armutsproblem führen, werden wenig berücksichtigt.

So machen die Filmautoren im Grunde genau das, was sie in ihrem Film anprangern: Die Zuschauer verunsichert zurückzulassen, weil sie am Ende keinen Deut klüger sind als zuvor.

„Abschied von der Mittelschicht – Die prekäre Gesellschaft“, Arte, 4. Februar, 20.15 Uhr

Auch die Zahlen belegen, dass die soziale Ungerechtigkeit wächst. Laut einer Studie aus dem vergangenen Oktober sind kinderreiche Familien besonders von Armut bedroht – Tendenz steigend. Auch die Angst vor der Altersarmut steigt. Viele Menschen befürchten, dass ihre Alterseinkünfte nicht ausreichen werden, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten zu können.