Berlin. Im Luzerner „Tatort“ macht sich ein Fernbusfahrer ungewollt mitverantwortlich für den Tod eines Menschen. Wie gehen Menschen damit um?
Ein Mensch steht auf den Gleisen. Der Lokführer schaut ihm in die Augen und weiß bereits in diesem Moment, dass er den Zug nicht mehr rechtzeitig zum Stehen bringen kann. Der Fernbusfahrer Beni Gisler im Luzerner „Tatort“ musste diese Situation schon zweimal durchleben.
Ein Alptraum – er wechselte nach fünfzehn Jahren seinen Job. Nun fährt er Fernbusse auf den Straßen. Und schon wieder passiert es: Ein Mann stürzt von einer Autobahnbrücke und prallt direkt auf die Frontscheibe seines Busses.
Unfreiwillig mitverantwortlich für den Tod eines Menschen
Immer wieder nehmen sich Menschen das Leben, indem sie vor einen Zug oder von einer Autobahnbrücke springen. Zurück bleiben nicht nur traumatisierte Familienangehörige der Opfer, sondern auch Lokführer und Autofahrer, die nicht mehr rechtzeitig reagieren konnten und nun versuchen mit dem Erlebten zurechtzukommen.
Der Schweizer „Tatort: Zwei Leben“ thematisiert die Geschichte des Fernbusfahrers Beni Gisler, der für den Tod von insgesamt drei Menschen unfreiwillig mitverantwortlich wurde. Im ARD-Krimi konnte ein Selbstmord aufgrund einer hohen Dosis Benzodiazepin des Toten schnell ausgeschlossen werden – der eigentliche Mörder muss erst gefasst werden.
„Es ist einfach ein scheiß brutaler Zufall, dass es dich getroffen hat“, beruhigt Tatort-Kommissar Flückinger seinen alten Bekannten. Tatsächlich sei das Risiko für Fernbusfahrer mit derartigen menschlichen Grenzerfahrungen konfrontiert zu werden äußerst gering, bestätigt ein Sprecher des Fernbusunternehmens Flixbus unserer Redaktion.
1. Hunderte Fälle von Schienensuizid im Jahr
Anders sieht es allerdings im Fern- und Nahverkehr in Deutschland aus. Christian Gravert leitet seit 2003 das Gesundheitsmanagement der Deutschen Bahn AG und beschäftigt sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Nach Angaben des Unternehmens ereignen sich im Jahr mehr als 700 Fälle von Schienensuizid, wie der Selbstmord auf Gleisen in Fachkreisen genannt wird.
Die Deutsche Bahn hat daher ein umfassendes Betreuungsprogramm entwickelt, das den aktuellen Stand der Traumapsychologie entspricht und konzernweit angewandt wird.
„Bei Lokführern ist das Überfahren von Personen im Gleis tatsächlich der häufigste Arbeitsunfall. Statistisch erlebt ein Lokführer der DB ein- bis zweimal in seinem Berufsleben einen solchen Unfall“, sagt Gravert unserer Redaktion. Im Betreuungsprogramm der Bahn gehe es in erster Linie darum, posttraumatische Belastungsstörungen zu vermeiden. Nach solchen traumatischen Ereignissen werde den Betroffenen sofortige Hilfe angeboten, indem von dafür ausgebildeten Kollegen und einem Team von Psychologen betreut werden. Außerdem betont Gravert, dass „Lokführer ausnahmslos von Kollegen abgelöst und nach Hause begleitet werden“.
Der Schweizer „Tatort: Zwei Leben“
2. Betroffene fallen eigentlich in eine Schockstarre
Wie reagieren die Menschen, denen so etwas passiert? Im „Tatort“ wird Beni Gisler kurz nach dem Unfall beim Ausbruch eines Wutanfalls von einem Autofahrer gefilmt. In dem Video ist zu erkennen, wie er gegen die Leiche tritt und völlig die Nerven verliert.
Nicht sehr realistisch, so die Einschätzung von Gravert. „Menschen, die solchen Situation ausgesetzt waren, verfallen in den ersten Minuten normalerweise in eine Art Schockstarre.“ Später würden sie zu frösteln beginnen, dann käme Übelkeit hinzu. „Außerdem sind sie erschüttert über das eigene Verhalten – Menschen stehen gewissermaßen neben sich“, erklärt Gravert.
3. Familie und Freunde sind die beste Hilfe
Wer einen Suizid erlebt wie Beni Gisler im Film, der braucht – von professioneller Hilfe abgesehen – auch Hilfe aus dem eigenen Umfeld. Im „Tatort“ ist Gisler ganz alleine. Als er von Kommissar Flückinger nach Hause gebracht wird, wartet in seiner Wohnung niemand auf ihn. Seine Familie verließ ihn zwei Jahre nach dem ersten Unfall: „Ich saß nur noch da, dann waren sie weg. Sie sagten, ich sei ein Monster“, erzählt Gisler. Dabei wären es genau die Familie und Freunde, die Hilfe leisten könnten.
„Am ehesten kann man Betroffene in ihrer Situation unterstützen, indem man Verständnis für sie zeigt – auch wenn sie oftmals gereizt wirken“, empfiehlt Gravert. Verständnis zeigen heißt auch den Betroffenen Zeit zu geben. In solchen Momenten ist Fingerspitzengefühl gefragt. Eine Therapie aber ergibt nur dann Sinn, wenn Betroffene dazu bereit sind. Auch Gravert rät: „Man sollte sie auf gar keinen Fall zwingen, über ihre Situation zu sprechen wenn sie es nicht wollen.“
4. Professionelle Betreuungsprogramme helfen zusätzlich
Beni Gisler sieht sich selbst nicht als Opfer, obwohl er noch immer an den Folgen der traumatischen Ereignisse leidet. Das Geräusch will nicht aus seinem Kopf verschwinden: „Ich will einfach wieder ganz normal aus dem Haus, über die Straße, ins Café, ganz normal, einfach so.“ Am Ende des „Tatorts“ bleibt die Frage offen, ob sich das Leben des Ex-Fernbusfahrers zu einem besseren wenden wird.
Tatsächlich sind die Chancen auf Besserung nach derartigen traumatischen Erlebnissen relativ hoch. Gravert bestätigt, dass mit der Einführung des Betreuungsprogramms der Deutschen Bahn seit Mitte der 1990er Jahre, Risiken für eine mögliche posttraumatische Belastungsstörung deutlich verringert werden konnten.
Besonders erfolgreich erwies sich hierbei die gedankliche Auseinandersetzung mit belastenden Ereignissen bereits während der Ausbildung der Mitarbeiter. Das zeige sich auch in der Zahl der Wiedereingliederung in den Beruf: „Immer häufiger gelingt es den Betroffenen bereits nach wenigen Wochen zurück zu ihrer Arbeit zu kehren“, hält Gravert fest.
Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.