Salzburger Festspiele

Nathan im Kreise – eine lange, sehr lange Text-Tretmühle

| Lesedauer: 5 Minuten
Valery Tscheplanowa (r.) als Nathan in der Text-Tretmühle von Ulrich Rasches Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“ bei den Salzburger Festspielen

Valery Tscheplanowa (r.) als Nathan in der Text-Tretmühle von Ulrich Rasches Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“ bei den Salzburger Festspielen

Foto: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele

Valery Tscheplanowa trägt und prägt Lessings brachial anstrengenden „Nathan der Weise”-Dauerlauf bei den Salzburger Festspielen.

Salzburg.  Wie weit kann oder, besser, muss in dieser oft verunsicherten Gegenwart ein Theaterstück über Toleranz und Glaube, über Humanismus und Hass gehen, bis es mitsamt seinen zeitlosen Fragen, Antworten und Werten tatsächlich beim Publikum ankommt? Diese Frage beantwortet der Regisseur und Bühnenbildner Ulrich Rasche, für formstrenge Zumutungen bekannt bis gefürchtet, auch in seinem Blick auf Lessings Moral-Debatte „Nathan der Weise“ bei den Salzburger Festspielen radikal buchstäblich: Sein Ensemble geht und geht und geht und geht und produziert dabei Textmengen als Chor-Kollektiv, im Rhythmus der Worte, im Schritttempo.

Stundenlang, mit vielen Atempausen, immer im nachdrückend anklagenden Tonfall, vorwärts, rückwärts, seitwärts, brachial auf Linie gehalten durch die düster pulsierenden Rhythmen der Begleitmusiker wie die Galeerenruderer durch den Folter-Beat. Immer wieder wird ihnen von Rasche als „Deus cum Machina“ ihr Boden unter den Füßen weggezogen. Immer wieder, Gleichschritt für Gleichschritt, erobern sie ihn sich zurück und drehen sich dabei doch nur um sich selbst.

Rasche prügelt mit dieser Aufstellung dem Publikum den Text und seine Botschaften regelrecht ins Hirn. Leise, sanft, überraschend gar – all das ist nicht. Rasche lässt dahin gehen, wo es wehtut, und betreibt Aufklärung mit der Brechstange.

Salzburger Festspiele: Nathan im Kreise

Das alles ist echt hart und straff durchexerziert, eine erbarmungslos funktionierende Text-Tretmühle. Diese rigide Theaterästhetik verlangt auch von den Menschen vor der Bühne Kondition, weil sie gleichzeitig packen will und erschöpfen muss. Und wenn man so arbeiten und deuten will wie Rasche, ist Lessings Schulstoff-Klassiker ein idealer Stoff, steht doch die Ringparabel über die Gleichwertigkeit von Glaubensrichtungen im Mittelpunkt.

Diesen erkenntnisstiftenden Ring hat Rasche in der Salzburger-Festival-Außenspielstätte Perner-Insel flächendeckend verbühnt, zu einer riesigen, leise knarzenden Drehbühnen-Scheibe werden lassen, auf der das Ensemble im Vierfünfteldunkel des Saals seine Kreise zieht, unisono in geschlechtsneutralisierendem Schwarz, umwabert von Kunstnebel, der die faszinierenden, vielseitigen Lichtideen konkret werden lässt.

Rasche zeigt damit vom ersten Wort an, was Lessings Stück als Ziel-These erst noch erreichen will: Alle Menschen werden tunlichst Brüder, sie müssen es ganz bedingungslos werden, in einer Umgebung, in der des Volkes christliche Stimme, von Rasche zu einem anonymen Chor verschmolzen, vergeltungshungrig und ungestraft von höheren Mächten ein „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!“ rufen kann.

Salzburger Festspiele: Rasche zeigt beim „Nathan“ nur das Allernötigste

Rasche zeigt, wie aktuell die Anliegen des 18. Jahrhunderts auch im 21. Jahrhundert wieder sind. „Was ich sage, halte ich für wahr“, dröhnt dieser Chor, und vor dem geistigen Auge taucht sofort eine irre orangefarbene Frisur auf.

Für das hehre Ziel des Erkenntnisgewinns über jede Unterschiedlichkeit hinweg gehen sie alle, Juden, Moslems, Christen, kilometerweit, vier lange, sehr lange Stunden lang. Vom Jerusalem während der Kreuzzüge ist natürlich nichts zu sehen, Rasche zeigt nur das Allernötigste, ein abstraktes, kahl expressionistisches Fast-Nichts, hohe, konzentrisch bewegbare Säulen, deren Lichtelemente aus dem Nebel Andeutungen von Räumen entstehen lassen können.

Um nur ja nicht konkret oder gar individuell gefühlig zu werden, hat Rasche nicht nur den Text von klassischen Attributen befreit, auch Nathan selbst ist kein bilderbuchalter weißer Mann mit altersweisem Rauschebart (Lessings Role Model dafür war der Philosoph Joseph Mendelssohn, der Großvater der komponierenden Geschwister Felix und Fanny). Er ist jetzt eine junge blonde Frau mit straffer, sehniger Körperhaltung und einem Tonfall, der keinen unklugen Widerspruch duldet.

Valery Tscheplanowa (2020 war sie ein Aufmerksamkeitsmagnet in Frank Castorfs „molto agitato“-Projekt an der Hamburger Staatsoper) übernahm diese Strapaze erst drei Wochen vor der Premiere, als Ersatz für die erkrankte Judith Engel, und sie machte es vom ersten Schritt an großartig. Bereits 2018 hatte sie Rasches „Perser“-Version bei den Salzburger Festspielen überstanden, nun spazierte sie geradezu elegant über ihren Textberg hinweg.

„Nathan der Weise“: Erst zum Schluss wird es persönlich

Das Stück zieht sich unterdessen an ihr vorbei. Die Wendung zum finalen Guten wird zur letzten von vielen Strapazen, weil Rasche selbst dort, als sich die Streitereien um Herkunft und religiöse Orientierung wie im Schunkel-Musical Schritt für Schritt entwirren und harmonisch einrenken, keinen Zentimeter von seiner Route abweichen lässt.

Erst direkt auf der Ziellinie erlaubt Rasche sich und Tscheplanowa einen ersten, letzten kleinen persönlichen Moment, als sie ihr „zu Hilf“ fleht, das nicht nur 240 Jahre altes Schlusswort ist, sondern wohl auch eine Einmischungsaufforderung ins Hier und Jetzt sein soll.

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