Hamburg. Ein Dirigent sortiere ja doch nur die Luft über dem Orchester, heißt es manchmal gern und abwertend, wenn man betonen möchte, dass es doch irgendwie auch ohne ihn gehen könnte. Könnte bestimmt, theoretisch und oft. Sollte aber nicht, bloß weil man es könnte. Und keineswegs bei derart diametralen Herausforderungen wie jenen, mit denen Sir Simon Rattle das erste seiner drei Elbphilharmonie-Gastspiele dieser Saison mit dem London Symphony Orchestra bestückt hatte
Die hatten es seit der Entscheidung füreinander nicht einfach, vorsichtig ausgedrückt: erst der Brexit und seine Verwüstungen in der Kulturlandschaft, dann der Ausbruch der Corona-Pandemie, dazu das Begräbnis der Hoffnung auf einen spektakulären neuen Konzertsaal in London, deren Realisierungs-Turbo Rattle als neuer LSO-Chef hätte sein sollen. Tja. Keep calm and carry on, das Beste daraus machen, stiff upper lip, cheerio und so. Genau so lief dieser Abend dann auch.
Interesting, indeed, diese drastisch ungleiche Kombination, auf den ersten Blick zumindest: zunächst Strawinskys ruppige, scharfkantige, oft brachial widerspenstige „Symphony in Three Movements“, eine Auftragsarbeit des New York Philharmonic, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs uraufgeführt und entsprechend aufgewühlt nachhallend und Traumata verarbeitend. Doch Rattle sah und nahm dieses quer zu vielen Konventionen stehende Stück auch als Gelegenheit, um die Klasse seines Klangkörpers vorzuführen. Die Bereitschaft, dem berühmten Fingerspitzenwink zu folgen, präzise und energisch, mit der nötigen Härte und der größtmöglichen Leichtigkeit, auch wenn es eine schwindelerregende Achterbahnfahrt durch Befindlichkeiten und Stimmungsumschwünge sein soll.
Sir Simon Rattle und das LSO leisten Präzisionsarbeit
Denn „schön“, handzahm, freundlich und unverbindlich ist dieses Stück ja eindeutig nicht. Die ruhigeren Phasen sind so kurz wie trügerisch, die kleinen Jazz-Anspielungen und die sehr offensichtlichen Selbstzitate Strawinskys bleiben Würze und nicht Hauptgang; immer wieder bricht der Boden unter den Füßen weg, immer wieder eskaliert die Musik und windet sich kämpfend vorwärts. Rattle hat ein intuitives Verständnis für die Fallstricke dieser Partitur, und er bewies seine Klasse als Problemlöser, wenn es um Transparenz und Detailschärfe in der Klangfarbenabstufung geht.
Unentwegt justierte sich das LSO unter seiner schnörkellosen, stilsicheren Wegweisung neu aus, immer wieder veränderten sich Temperatur und Timbre der Holzbläser-Sätze. Das Blech grätschte gekonnt dazwischen, aber ohne sich auch nur einen Millimeter weiter als notwendig ins Klangbild zu schieben. Präzisionsarbeit mit Herz und Verstand, eine Aufforderung, auch die sperrigeren Strawinsky-Arbeiten nicht pauschal als undankbar abzutun.
Rattle nimmt die Weihnachtsbescherung vorweg
So viel also aus der Abteilung Nachhilfeunterricht-Peitsche; das fingerdick belegte Zuckerbrot gab es nach der Pause, mit dem zweiten Akt aus Tschaikowskys „Nussknacker“-Ballettmusik, nicht nur die Alle-Jahre-wieder-Publikumslieblings-Stückchen, sondern auch etwas Drumherum. Antizyklisch gedacht, noch ist Weihnachten sehr weit weg, die schöne Bescherung allerdings zog Rattle mit dieser Pralinenschachtel um einige Monate vor.
Denn unter der massiven Trüffel-Sahne-Schoko-Klischee-Schicht steckt, man hört es nur so selten so klar, ein liebreizendes Instrumentations-Meisterwerk, randvoll mit großartigen, liebenswürdigen, niedlichen und herzerwärmenden Einfällen, die weit mehr sein können als bloß ein Tutu-Soundtrack für kitschsüße Adventsaufführungen. Die nächste große Liebeserklärung Rattles also, an einen anderen russischen Komponisten, der ähnlich genial auf der Spezialeffekte-Klaviatur seines Orchesterapparats zaubern konnte.
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Kein Kinderspiel, all das herauszukitzeln. Doch sowohl Rattle als auch das LSO haben für dieses Stück einen riesigen Softspot. Der Spaß an der Freude war unüberhörbar. Die Divertissements der Festszenen mit ihren reizvoll drapierten Exotismen, die Kastagnetten zur Schokolade, die fein dosierten Arabesken zum Kaffee, extrem leise auf Zehenspitzen durch den Klangraum huschend. Die zerbrechliche Chinoiserie zum Tee, der Trepak, der aparte Tanz der Rohrflöten, die ganz reizend zirpende Celesta im Tanz der Zuckerfee – jede Episode ein Bravourstück. Und der Blumenwalzer so lieblich und grazil, dass man am liebsten sofort die Eiskunstlauf-Schlittschuhe angeschnallt und sich, Talent oder nicht, in die nächste Pirouette gestürzt hätte. Ein Märchenstündchen.
Nächste LSO-Konzerte: 13. Januar: Werke von Mahler, Rott, Webern und Dvorak / 14. Januar: Werke von Rózsa, Sibelius und Bartók. Am 23. Februar dirigiert Rattle Schumanns „Das Paradies und die Peri“, dann spielt die Staatskapelle Berlin. Infos unter www.elbphilharmonie.de.
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