Hamburg. „Raus! Nur raus! “ Was klingt wie das genaue Gegenteil der derzeit offiziellen Empfehlungslage, die eher vorsieht, dass man es sich mit einem guten Buch zu Hause nett macht, ist ein Titel, der tatsächlich beides auf das Allerfeinste zu verbinden weiß. Der zartrote Band mit dem Untertitel „Unterwegs zu den Lieblingsorten der Hamburger Literatur“ (120 S., 8 Euro) mag ein kleines, ein schmales Büchlein sein, die Herausgeberinnen Antje Flemming (Kulturbehörde) und Carolin Löher (Literaturhaus) aber haben da nicht nur ein ausgesprochen vielschichtiges Porträt der Stadt zusammengestellt, toll gestaltet übrigens von Kathleen Bernsdorf, sondern auch eine Liebeserklärung an jene, die in ihr mit der Literatur zu tun haben.
Schriftstellerinnen und Autoren, aber auch Buchhändlerinnen und Übersetzer, Veranstalterinnen und Kritiker. In kurzen Miniaturen führen sie durch jeweils einen Herzensort, und weil so eine Auswahl herrlich subjektiv ist, sind da die Landungsbrücken oder der Jenischpark genauso selbstverständlich vertreten wie Jenfeld tief im Osten, die U- und S-Bahn, der Wandsbeker Markt.
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Herzensorte: Auf jeder Seite kleine Fluchten und große Bögen
Über einen Hinterhof, „der eher nach Drogenhandel und Bandenkriminalität aussieht als wie der Vorhof zum Paradies“, schwärmt der Autor Stefan Beuse. „Tatsächlich aber...“ geht schon der nächste Satz los, und da will man es ja nun spätestens wissen.
So eröffnen sich auf jeder Seite kleine Fluchten und große Bögen, rauhe Ecken und scharfe Kanten und Winkel, in denen manchmal die Poesie hockt und manchmal die Inspiration einen über den Durst hebt: „Ohne den Silbersack wäre ich nichts“, erklärt zum Beispiel Simone Buchholz und schreibt eine wahrhaftige Tresen-Ode über „kaputte Herzen“ und all die anderen Geschichten, die einem ein solcher Ort einflüstert, sobald man ihn betritt. Und das Zuhören beherrscht, versteht sich: „Mein Gehirn versteckt sich im Vorhang am Eingang, knutscht rum und schreibt mit.“ An so einem Satz verweilt man doch länger - nicht nur, wenn die echten Kneipen dicht sind.
Auffallend viele Tresen und Kneipenstammplätze
Die Buchhändlerin Daniela Dobernigg lässt sich auf Kampnagel inspirieren, Herausgeberin Antje Flemming erinnert sich an eine Nacht im Literaturhaus, „als der Herr des Hauses gegangen war, die Verantwortung aber da gelassen hatte“, die Literaturvermittlerin Annette Huber erklärt den Mond über Hamburg für „systemrelevant“. Der Romandebütant Sebastian Stuertz träumt von einer „Buchhändlerinnen-Geheimgesellschaft", die Bestsellerautorin Isabel Bogdan läuft ihre Runden durch den Hammer Park und die Autorin Leona Stahlmann findet auf dem Ohlsdorfer Friedhof zur Ruhe: „Der Ort legte sich einem wahllos, ja, ein wenig verludert fast vor die Spazierfüße...“ Flanieren, Besinnen, Mitnehmen, Verweilen und Erleben, das sind die Kategorien.
Möwen kommen vor, na klar, auch Schiffe, der große Strom. Muss ja. Was allerdings erst recht muss: auffallend viele Tresen und Kneipenstammplätze, wie der von Matthias Politycki im handfesten „Meisenfrei“ (wo man trotzdem Gedichte so schätzt wie ein anständig Gezapftes), wie die „Bar 439“, die „Palette“, der „Goldene Handschuh“ und der bereits erwähnte „Silbersack“. Warum das so ist? Als Antwort taugt eine „robuste Schriftstellerweisheit“, die hier der Kultursenator beisteuert: „Write drunk. Edit sober.“
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