Hamburg. Viel wiegt so eine Violine ja nicht, obwohl sie – erst recht für Profis – so unendlich schwer ist. Ein paar Hundert Gramm Material bringt sie auf die Waage, dazu kommt dann noch der Bogen. Alles andere ist Vorstellungskraft, Hoffnung auf Inspiration und mit zwei Händen möglichst passend bewegte Luft. Vieles davon kann man lernen und danach üben.
Doch erst weit oberhalb von diesen Erfahrungen beginnt, was der Geiger Christian Tetzlaff etwa zwei Stunden lang auf der Bühne im Herzen der Elbphilharmonie vorführte: Bach, der reine Bach und nichts als Bach; so sicher wie ein Amen in der Kirche und so unangestrengt gespielt, als wären diese sechs Solo-Sonaten und -Partiten nur irgendeine Aufwärm-Fingerübung. Um Mozarts Kompositions-Späßchen, er habe alles im Kopf und müsse es nur noch eben mal aufschreiben, für diesen Anlass zu variieren: Tetzlaff hatte alles im Herzen, er wollte es nur noch spielen.
Schwerstarbeit, die nicht nach Schwerstarbeit klang
Die bescheidene Nicht-Inszenierung dieses sensationellen Konzerts, mit dem sich das Schleswig-Holstein Musik Festival in Tetzlaffs Geburtsstadt Hamburg schon vor der offiziellen Eröffnung an diesem Wochenende bemerkbar machte, hatte zwei ebenso schöne wie vielsagende Details: Das Notenpult neben dem Solisten war vor allem Requisite und nicht faktische Notwendigkeit, denn nur für einige Sätze der ersten Partita nutzte Tetzlaff das Gedruckte, während ihm die Scheinwerfer im Großen Saal drei Schlagschatten verliehen, die alle von ihm ausgingen und alle in unterschiedliche Richtungen wiesen.
Passend war auch das, als Verbildlichung der virtuosen Vielschichtigkeit und der Dialogfarben, die Tetzlaff aus Bachs Musik-Fluss für ein einzelnes Instrument zauberte, ohne dass diese Schwerstarbeit nach Schwerstarbeit klang.
Man kann mühelos kein hundertprozentiger Fan von Johann Sebastian Bach sein und dieses Konzert dennoch mächtig beeindruckt verlassen haben. Denn eine leichte Distanz zu dieser Musik hilft sehr, wenn man trotzdem live vom Ausmaß ihrer Eindringlichkeit überzeugt werden möchte. Und weil Tetzlaff das natürlich längst weiß, begann er, indem er sich zunächst zurückhielt und Strukturen skizzierte.
Die Tongestaltung war straff und schlank, federnd und grazil. Anstatt von vornherein die Machbarkeits-Obergrenzen der Saal-Akustik herauszufordern, ließ Tetzlaff in der g-Moll-Sonate das Adagio ins Nichts verklingen. Ein Testballon. Die Tanzsätze sollten erst noch folgen; Tetzlaff machte kleine, feine Unterschiede zwischen Sonaten und Partiten. So abstrakt und verkopft diese Musik auch ist, so sinnlich und oft geradezu verspielt spielte sie Tetzlaff. Mit einem uneitlen, oft sehnigen Ton, der in jeder Lage konkret war und nicht in anbetendem Wohlklang schwelgte, das war zeitgemäßes Mit-Denken, im Rahmen eines Barock-Konzerts angenehm modern, keine Denkmalpflege.
Sparsames Vibrato
Seine Vibrato-Einsätze dosierte Tetzlaff durchgängig extrem sparsam. Keine Ablenkungen, keine gefühligen Verhübschungen oder Seufzer-Drücker aus dem Effekt-Sortiment späterer Jahrhunderte. Unverstellter, sich ehrlich machender Blick aufs Wesentliche. Hoffen, Zweifeln und Verzweifeln. Für diese Musik braucht es enormen Mut und – großer Begriff, aber darunter geht es manchmal eben nicht – moralische Reife.
In den intellektuellen Verästelungen der virtuosen Herausforderungen fand Tetzlaff immer wieder dankbare Freiräume für Spontanes: hier ein kleiner Unterschied in der Phrasierung eines Motivs, um ermüdende Gleichförmigkeiten zu umgehen; da das kurze Auskosten einer Akkordbrechung, die mit ihrer Akzentsetzung auch darauf verwies, wo die harmonischen Nervenbahnen zwischen den Geigen-Saiten verlaufen.
In den schnellen Sätzen schien Tetzlaff mit sich selbst eine kleine Wette abgeschlossen zu haben, wie rasant er durch die Läufe kommen kann, immer mit minimalem Sicherheitsabstand zum Scheitern und dennoch mit traumwandlerischer Treffsicherheit. Dass diese Musik ihre Wirkung auf knapp 2100 Menschen hatte, zeigte die Stille im Raum, die sich schnell von sehr leise zu unfassbar leise steigerte. Geatmet wurde wohl noch, gehustet aber nur noch zwischen den Sätzen. Eine Einladung für Tetzlaff, noch stringenter weniger zu spielen, um in diesem Gespräch ohne Worte noch mehr Aufmerksamkeit einzufordern.
Am Ende fand Tetzlaff zum Spaß, zum reinen Vergnügen
Zentralstern in diesem Universum aus Noten, klar: die Ciaccona, das sinfonisch ausholende Finale in der d-Moll-Partita, die eigentlich schon eine Meditation über Leben und Tod ist und nicht bloß ein großer Variationszyklus in die Höhen und die Tiefen einer Idee. Tetzlaff holte weit aus, um auszuloten, wie viel Unterscheidbares sich von einem einzelnen Übersetzer in diese Noten hineinerzählen lässt.
Von da an spielte er sich mit konstanter Leichtigkeit auf die letzte, die E-Dur-Partita hin, die in ihrer sonnigen Heiterkeit einiges von einer verfrüht abgerufenen Zugabe hatte. Hier, so schien es schon ab dem Preludio, fand Tetzlaff zum Spaß, zum reinen Vergnügen, den Bach einem Geiger machen kann, wenn die Stromschnellen in seinen vorangegangenen Solo-Stücken erst einmal unfallfrei überstanden sind. Von den letzten Töne der finalen Gigue verabschiedete sich Tetzlaff froh einfach so, ohne Trennungsschmerz.
Kann man nach so viel Musik über Musik, auf der Elbphilharmonie-Rolltreppe zum Boden der Tatsachen fahrend, einfach so – ohne Nachhall und Nebenwirkungen – in den Rest der Welt zurückkehren? Man kann. Aber die Erinnerung im musikalischen Langzeitgedächtnis wird nachklingen.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kritiken