Hamburg/Brüssel. „Gott lebt in Brüssel“ lautet das Motto für den Film „Das brandneue Testament“, der zurzeit in den Kinos läuft. Es ist ein liebevoll-listiges, ketzerisch und philosophisch-poetisches Was-wäre-wenn-Spiel um Macht, Religion und Allwissenheit, mit dem das Filmfest Hamburg eröffnet wurde, und das Belgien ins Rennen um den Auslands-Oscar schickt. Aber in Brüssel hat sich seit den Terror-Anschlägen von Paris einiges geändert. Mehrere Attentäter sollen im Vorort Molenbeek gewohnt haben, mehrere Tage mussten die Brüsseler im Ausnahmezustand leben, weil man dort einen neuen Anschlag befürchtete. Regisseur Jaco Van Dormael schreibt für das Abendblatt, was er vom derzeitigen Zustand seiner Heimatstadt hält.
„Belgien ist schon immer ein Land gewesen, in dem man leicht Zuflucht finden konnte. In weniger als einer Stunde kann man in den Niederlanden, Deutschland, Luxemburg oder Frankreich sein. Victor Hugo hat in Belgien genauso Schutz gesucht wie Karl Marx, der hier sein ,Kommunistisches Manifest’ schrieb. Rimbaud und Verlaine kamen hierher, um ihr Liebesleben zu gestalten.
Brüssel zahlt einen besonderen Preis für den Separatismus
Ich lebe in Brüssel, arbeite oft in Molenbeek und mein Eindruck ist, dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen gut funktioniert, von außen betrachtet. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich es genieße, in Brüssel zu leben. Die Sprachen, die Kulturen vermischen sich, das ist eine Bereicherung. Aber Brüssel zahlt auch den Preis für den Separatismus.
Der flämische Norden, überwältigt von nationalistischen und separatistischen Strömungen, zieht sich in sich selbst zurück. Die französischsprachige Wallonie im Süden macht tendenziell dasselbe. Brüssel ist weder für den Norden noch für den Süden weiterhin interessant und hat kaum Ressourcen. So sieht es auch mit dem Bildungswesen aus.
Junge Muslime fühlen sich verloren
Junge Muslime fühlen sich manchmal verloren, wegen mangelnder Integration, Studienabbrechern und Arbeitslosigkeit einerseits und dem mangelnden Verständnis ihrer Eltern, die die Welt ihrer Kinder nicht begreifen, andererseits. Die Frauen bleiben oft zu Hause, und die Imame kennen die Welt der Jüngeren oft gar nicht.
Was jetzt passiert, hat meiner Meinung nach nichts mit Religion zu tun. Religion wird benutzt, um Macht auszuüben. Man sucht nach Jugendlichen mit einer schlechten Bildung, die vom Leben enttäuscht sind, leicht indoktriniert werden und als Waffen benutzt werden können. Wir werfen Bomben, sie benutzen Selbstmordattentäter. Sie wollen Terror verbreiten, im Gegenzug soll der Einsatz von Sicherheitskräften Eindruck machen.
"Die Brüsseler wissen nicht, warum das Militär im Einsatz ist"
Ich habe den Eindruck, dass die Bürger in Brüssel nicht den Grund dafür kennen, warum das Militär zum Einsatz kommt, warum die Ausgangssperren und das Versammlungsverbot erlassen wurden. Was mich betrifft, kann ich nicht sagen, ob etwas Neues entdeckt worden ist, ob diese Maßnahmen nützlich sind, ob die Bedrohung real ist, oder ob es sich um eine Zurschaustellung von Macht handelt.
Wir sollten uns daran erinnern, dass viele aktuelle Regierungsmitglieder zur NVA gehören, unserer mehr als rechten und separatistischen flämischen Partei, die unter anderem für das Verteidigungsministerium, das Innenministerium und das Ministerium für Integration verantwortlich ist.“
"Das brandneue Testament" ist ein Publikumsrenner und Oscar-Anwärter
Die Groteske „Das brandneue Testament" hatten schon bald nach dem Start im September mehr als eine Million Zuschauer gesehen. Für belgische Verhältnisse ist das fast schon ein Blockbuster. Mittlerweile ist er für Belgien im Rennen um den Auslands-Oscar. In Deutschland erlebte er seine Premiere beim Filmfest Hamburg.
„Das brandneue Testament" erzählt eine Geschichte von Gott. Der lebt mit Frau und Tochter im heutigen Brüssel, Sohn JC ist schon lange ausgezogen. Die Menschen schikaniert der ständig im schmuddeligen Bademantel herumlaufende allmächtige Misanthrop mit ständig neuen Geboten und Katastrophen.
Die Tochter verschickt SMS mit dem Todesdatum
Seiner Tochter Éa wird das irgendwann zu bunt. Sie hackt sich in den Computer ihres Vaters und verschickte an eine Reihe von Menschen eine SMS mit deren Todesdatum. Darauf reagieren die natürlich höchst unterschiedlich. Sie lassen plötzlich Arbeit Arbeit sein und machen, was sie schon immer wollten. Ihre Gottesfürchtigkeit geht dabei den Bach hinunter. Die Todesnachricht wird zu einer Art Befreiung. Éa will ihr eigenes Testament schreiben und macht sich deshalb auf die Suche nach sechs zusätzlichen Aposteln.
Regisseur Jaco Van Dormael gelingt hier eine schöne Mischung aus Komödie, Poesie und Philosophie. Der Erfolg an der Kinokasse zeigt, wie sehr der Regisseur von „Toto der Held" damit einen Nerv getroffen hat. Die ersten Lacher gibt es in seinem Film, wenn es dort heißt: Und Gott schuf Brüssel. "Das hat in Belgien natürlich eine andere Bedeutung. Für die Griechen und die Spanier ist das aber enorm witzig, weil es bedeutet, damit hat Gott auch den ganzen Ärger erschaffen", sagt der Regisseur.
Van Dormael bezeichnet sich selbst als Atheisten
Brüssel ist seine Heimatstadt. "Es ist merkwürdig, dass immer noch Leute dort leben", flachst er. "Wahrscheinlich haben sie sich in jemand verliebt und können deshalb die Stadt nicht verlassen. Es ist dort regnerisch, grau und so hässlich, dass es einem vielleicht nur schön vorkommt, wenn man dort geboren worden ist."
Aufgewachsen ist er aber als Kind einer Flämin und eines Wallonen bis zu seinem siebten Lebensjahr in Kelkheim bei Frankfurt. "Das war toll", erinnert er sich. Auch Deutsch kann er immer noch ein wenig sprechen - mit Einschränkungen und einem charmanten Akzent. "Es reicht, um zu überleben, aber nicht, um über Gott zu sprechen", sagt er und macht dann auf Englisch weiter.
Der katholisch erzogene Van Dormael bezeichnet sich als Atheist. Warum hat er sich dann dieses theologische Thema gesucht? "Als Kind war ich überrascht, dass Gott in der Bibel als eifersüchtig beschrieben wird. Er verbrennt Städte und zerstört Menschen. Er bittet einen Vater, seinen Sohn zu töten. Superman rettet Leben, warum Gott nicht? Vor so einem Gott kann man Angst haben."
Frauen sind in Religionen so selten wie Humor
Also schrieb er einen Film über eine Familienrevolte gegen ihn, in dem starke Frauen eine wichtige Rolle spielen. "Eigentlich hat Gotts Frau mehr Macht, aber er sagt: Misch dich nicht ein, ich bin der Boss. Finger weg von meinem Computer!" Dabei geht es dem Filmemacher gar nicht mal explizit um christliche Religionen. "Es gibt nicht viele Glaubensrichtungen mit Göttinnen. Die meisten Religionen sind von Männern für Männer gemacht. Das war gerade der Spaß an dieser Geschichte: Frauen mitspielen zu lassen, damit es anders wird."
Frauen sind in Religionen mindestens so selten wie Humor. Auch dieser Gedanke bildet eine der Säulen, auf denen der Film steht. Seine Meinung dazu ist eindeutig. "Was heute im Namen von Religionen passiert, macht mir Angst. Zum Beispiel, dass Menschen wegen ihres Glaubens hassen. Religion kann eine tolle Sache sein, wenn man daran glaubt. Aber doch nur, wenn sie Liebe bringt." Als er im Schnitt saß, geschah das Attentat auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo". Van Dormael hielt es für grausam und verrückt. "Deshalb haben wir den Film gemacht um vorzuschlagen, stell dir vor, es wäre möglich, mit jedem über alles zu lachen."
"Wir lachen über uns, bevor andere es tun"
In Filmen aus Belgien, einem kleinen Land mit einer Produktion von 30 bis 40 Filmen pro Jahr, findet man oft besonders drastische Bespiele von Humor. Wie kommt das? Van Dormael winkt ab. "Wir versuchen nur über uns zu lachen, bevor alle anderen es tun." Fundamentalismus hält er für abwegig. Er hat nach Erklärungen dafür gesucht, warum religiöse Extremisten zurzeit so eine laute Stimme haben. "Ich glaube, das hat etwas mit ihrer Angst zu tun. Sie vermeiden alles, was nicht zu ihren eigenen Antworten passt, und die sind verrückt. Die interessanteren Fragen sind doch: Warum sind wir hier? Was bedeutet das seltsame Experiment am Leben zu sein?"
Van Dormael ist ein langsamer Arbeiter. Dies ist erst sein vierter Film seit 1991. Ein Markenzeichen ist die manchmal überbordende Ideenflut in ihnen. Aber warum dauert es so lange? Er zuckt mit den Schultern. "Die Dinge brauchen ihre Zeit. Drei Jahre lang sind meine Drehbücher schlecht. Erst danach werden sie langsam gut." Die Struktur einer Geschichte interessiert ihn mehr als ihr Inhalt. "Man weiß zuerst nicht, wo der Weg hinführt, aber man vergisst das wieder, so ähnlich wie bei 'Alice im Wunderland' oder 'Don Quichote'. Wichtig ist nicht das Ende des Wegs, sondern was man unterwegs auf ihm findet."
Die nächste Etappe auf seinem Weg ist ein Theaterstück, das er geschrieben hat und das im Dezember Premiere haben soll. "Es ist eine Mischung aus Tanz, Film und Theater. Das Stück entsteht an jedem Abend neu, jedes Mal ist es anders. Wir beziehen das Publikum mit ein." Offenbar gelingt ihm der Spagat zwischen Bühne und Leinwand. Sein letztes Stück, "Kiss & Cry", wurde immerhin 250-mal gespielt.
„Das brandneue Testament“ läuft unter anderem im Abaton und im Zeise
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