Modellprojekt in Kiel

Unverhofft vergnügliche Premiere vor fast leerem Haus

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Besucher des Opernhauses Kiel warten auf den Beginn der Veranstaltung. Das Modellprojekt Kultur des Kieler Theaters startet.

Besucher des Opernhauses Kiel warten auf den Beginn der Veranstaltung. Das Modellprojekt Kultur des Kieler Theaters startet.

Foto: Axel Heimken / dpa

Das Kieler Theater zeigt die Operette „Der Vetter von Dingsda“. Eines hat man trotz quälender Lähmung des Spielbetriebs nicht verlernt.

Kiel. „Endlich! Ich hätte mir alles angesehen…!“, ruft jemand, offenbar ein Stammgast des Hauses mit schlimmen Entzugserscheinungen, einer Mitarbeiterin des Kieler Theaters im Foyer entgegen, bevor er in Richtung Sitzplatz weiterstürmt. Früher Dienstagabend, eisiges Frühlingsblau am Himmel, einige Möwen kreischen, der Rathausmarkt, draußen vor der Tür, ist praktisch menschenleer. Viel voller ist es im Inneren des Opernhauses auch nicht. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Kiel kreist momentan um die 80 herum. Und unter einer Schiller-Büste an der Front-Fassade der Oper steht auf einem großen Plakat „Wiedersehnsucht“. Das steht da wahrscheinlich schon seit Monaten.

Schönes Wortspiel, passend zur quälenden Lähmung des Spielbetriebs und der Kaltstellung ihrer Angebote. Doch weil die Corona-Zahlen in Schleswig-Holstein so sind, wie sie sind, wurden vor einigen Wochen von der Landesregierung mehrere Modellprojekte zugelassen, um das Wiederhochfahren der geschundenen Kultur-Landschaft hier, da und dort vorsichtig zu testen. Die Oper der Landeshauptstadt gehörte dazu; als klar war, dass wieder etwas gehen dürfte, entschied man sich schnell für eine Gala-Version von Eduard Künneckes „Der Vetter aus Dingsda“.

Negativer Corona-Testbefund zum Besuch der Kieler Oper

Fast genau auf den Tag 100 Jahre alt ist diese Operette, was höchstens ein zwingendes Argument für Hardcore-Operetten-Fans wäre, um sie auf eine Bühne zu bringen. Praktischer an diesem Stück: Es ließ sich konzertant mit einigen szenischen Anspielungen schnell und mit dem eigenen Ensemble hinbekommen.

Im Saal ist es, während die Lüftung gut hörbar und beruhigend energisch ihre Aufgabe erfüllt, sehr luftig. Drei Plätze nach links und rechts pro Gast oder Doppel, davor und dahinter je eine freie Reihe. Tagesaktueller negativer Testbefund ist eine Voraussetzung für den Einlass, Maske sowieso. Rund 150 statt 800 Menschen könnten hier sitzen, doch der erste Abend ist, anders als spätere Termine, noch nicht ausverkauft.

Ob es die Bedenken der tendenziell älteren Operetten-Zielgruppe sind (die andererseits schon eher mit Impfungen versorgt sein sollte als andere), ob es der kurzfristig gestartete Vorverkauf ist oder eine grundsätzlichere Skepsis – man weiß es nicht. Mehr erfahren die Veranstalter womöglich durch eine nachträgliche Publikumsbefragung, die von empirischen Soziologen der Kieler Uni als wissenschaftliche Begleitung durchgeführt werden soll.

Im hinteren Bühnenbereich ist sensationell voll

Fachleute vom Gesundheitsamt seien auch zur Begutachtung vor Ort, berichtet der Kaufmännische Direktor Roland Schneider. Generalintendant Daniel Karasek wird später bei seiner Publikums-Begrüßung von der Bühne zum Timing des Wiederaufmachendürfens sagen: „Wir hatten mit Mitte Mai gerechnet, zum Glück ist es jetzt etwas früher.“

Die Masken bleiben also alle oben, für etwa 100 Minuten, und die ersten Szenenapplaus-Portionen klingen noch so schütter, wie die Publikumsdichte vom ersten Rang aus aussieht. Dafür ist es im hinteren Bereich der Bühne geradezu sensationell voll. Aus dem 43-köpfigen Orchester kommt schon so einiges an Klang und Operetten-Schmiss. Generalmusikdirektor Benjamin Reiners tänzelt sich dort unentwegt und frohgemut um die Synkopen herum durch die Schunkel-Stücke. Die Vorderbühne und den überbauten Graben besingen in Abendgarderobe die jeweiligen Operetten-Gestalten.

Gediegener Mumpitz und Altherren-Schenkelklopfer

Wie es sich für eine launige Operette aus dem Berlin der frühen 1920er gehört, besteht die Handlung entweder aus gediegenem Mumpitz oder aus gehobenem Klamauk, mit Altherren-Schenkelklopfern wie „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken, küss mich und alles wird gut“. Ironische Brechung hätte hier reichlich zu tun. Die Charaktere tragen Knickerbocker-Kintopp-Namen wie Roderich, Hannchen oder Egon von Wildenhagen und das Stück geht mit der Ansage „Noch ein Schlückchen Bordeaux“ schon mal süffig los.

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„Onkel und Tante“, so eine andere Zeile, „sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht.“ Als Pointen-Meta-Ebene hat Regisseur Daniel Karasek das Personal um eine flottforsche 2021er-Musikpsychologin mit dem hübschen Namen Dr. Anne Waffel (Anne Rohde) ergänzt, die vor und nach jeder Künnecke-Portion sehr heutige Witze über zeitlos schönes Beziehungsgedöns und den akuten Corona-Blues dazugibt. Ein legitimer Trick, der lediglich wiederholt, was schon zu Künneckes Zeiten ein beliebter Stilblüten-Dünger war.

Mit jeder Pointe wird die Stimmung im Saal lockerer

„Diskurse“, wie in diesem neumodischen Regie-Theater, finden nur in den Kurz-Auftritten von Frau Doktor statt, ansonsten wird ganz klassische Standbein-Spielbein-Operette praktiziert. Auch mal schön, und bei aller Verwunderung über das eigene Vergnügen ebenso ein Beleg für den Wahrheitsgrad des anonymen „Endlich!“ vorhin im Foyer. Dem singenden Personal jedenfalls ist die Freude über die Wiederbegegnung mit der Kieler Kundschaft klar anzusehen und anzuhören; mit jeder Pointe wird der Beifall stärker und die Stimmung im Saal lockerer, auch ohne Pausen-Piccolöchen, weil es ja weder Pause noch Piccolos gibt.

Der Plot schnurrt, die Chose läuft. Jeden Moment könnte hier Omas Wunschkonzert-Liebling Rudolf Schock reinkarnieren und es würde niemanden erstaunen. Vier Plätze weiter links wird beim Herzschmerz-Hit „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ herzhaft mitgesummt. Über den Herzchen-Luftballon-Regen beim Finale freuen sich alle. Und Schlussapplaus ist dann doch wie Fahrradfahren. Corona hin oder weg, das Klatschen wegen Kunst verlernt man nicht.