Hamburg. Es ist ein Abend, der bundesweit unter Beobachtung steht: Von der Politik, von Veranstaltern, von Orchestern und nicht zuletzt auch von den vielen Chören, die Teil der Kulturnation Deutschland sind: Morgen, am 3. September, dirigiert der ehemalige NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock im Dortmunder Konzerthaus das bundesweit erste große Oratoriumskonzert mit voller Besetzung – 36 Mitwirkende im Chor, 49 im Orchester plus Solisten – auf der Bühne. Um das vorschriftsgemäß zu schaffen, wurden ein strenges Hygienekonzept entwickelt und durchgezogen.
Hamburger Abendblatt: Wie kam es zu dieser Idee?
Thomas Hengelbrock: Der Intendant des Konzerthauses Dortmund wollte seine Saison unbedingt mit Haydns ,Schöpfung’ eröffnen – als hoffnungsstiftendes Symbol nach dieser langen kulturellen Durststrecke. Das Concertgebouw und Collegium Vocale Gent mussten absagen, weil sie keine groß besetzten chorsinfonischen Werke aufführen dürfen. Schon ganz früh nach dem Lockdown haben Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble begonnen, Konzepte zu entwickeln, die das Musizieren in großer Besetzung wieder ermöglichen. Und als wir gefragt worden sind, dieses Konzert zu übernehmen, war die Freude grenzenlos!
Die ,Schöpfung’ beginnt mit der ,Vorstellung des Chaos’, bis die berühmte C-Dur-Stelle kommt, wo der Chor singt ,Es werde Licht’. Mehr Symbolkraft geht kaum.
Hengelbrock: Diese Stelle ist auch ohne Corona-Bezug in ihrer Symbolkraft einzigartig in der Musikgeschichte. Überhaupt ist das ganze Werk von einer solch grenzenlosen Liebe zum Menschen und zum Leben durchwoben, dass es Musiker wie Zuhörer mit Trost und Zuversicht umhüllt. Haydn hat viele Kriege erlebt, in seinen letzten Lebensjahren tobten in Europa die napoleonischen Völkerschlachten. Und er hat mit seiner Musik dem allen das große „Trotzdem“ entgegengestellt.
Wie ist das Sicherheitskonzept entstanden?
Hengelbrock: Aus einem unmittelbaren Impuls: ,Wir müssen wieder spielen und singen, möglichst bald! Mit größtmöglicher Sicherheit für Musiker und Publikum.’ Mir ist sehr schnell klar geworden, dass wir eine kulturpolitische Zeitenwende erleben, die viele Existenzen zerstören wird. Es war erschreckend zu sehen, dass wir Künstler in den ersten Wochen der Krise von der Bundespolitik überhaupt nicht erwähnt wurden. Die Mitglieder von Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble kommen aus über 20 europäischen Ländern zusammen, wir fallen leider bei allen bisher aufgelegten Hilfspaketen des Bundes und der Länder durch das Raster. Unsere einzige Chance zu überleben ist nun: spielen und singen, und zwar alle zusammen! Und das ohne diese allem Künstlerischen zutiefst entgegenstehenden Abstandsvorschriften! Gemeinsam mit meinen fantastischen Mitarbeiterinnen haben wir uns von der Charité, von Fachärzten, Konzeptentwicklern der Fußball-Bundesliga und anderen beraten lassen und unser Konzept entwickelt.
Wie läuft die Umsetzung bis zum Konzert?
Hengelbrock: Das ist fast ein Overkill an zusätzlicher Arbeit für uns: Die Organisation mehrfacher Covid-19-Testungen aller Mitwirkenden vor und während der Projekte, protektive Isolation, Quarantäne, sukzessive testkontrollierte Aufhebung der Abstände, Selbstverpflichtungen, Enthaftung von Veranstaltern und Behörden durch Haftungsübernahme unsererseits und vieles mehr. Darüber hinaus gilt es, auf sich täglich ändernde Reisewarnungen und Flugabsagen zu reagieren und die neuen Verordnungen in den verschiedenen europäischen Ländern sowie den deutschen Bundesländern einzupflegen. Und nach all dem wissen Sie: Dieses Konzert haben wir uns wirklich verdient.
Die Charité hat kürzlich eine Debatte ausgelöst, als es in einer Stellungnahme hieß, man könne Abstände auf der Bühne verkleinern und man könne auch ruhig – bei Beachtung vieler Regeln! – die Publikumsplätze voll besetzen. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Hengelbrock: Selbstverständlich können Sie die Konzertsäle und Theater wieder voll besetzen, wenn Sie die von der Charité beschriebenen Sicherheitsempfehlungen umsetzen. Ein geringes Ansteckungsrisiko ist dann natürlich noch da, das lässt sich fast nirgendwo auf null fahren. Aber die Möglichkeit, wirklich ernsthaft zu erkranken, ist in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens um ein Vielfaches höher. „Mit dem Virus leben“ kann doch nicht heißen, ohne Musik, Kultur, Freude und Gemeinschaft zu leben!
Coronavirus – die Fotos zur Krise
Das Konzerthaus Dortmund darf bis zu 790 Plätze von 1550 füllen, mit Schachbrettmuster à la Salzburger Festspiele, die gerade ohne Zwischenfälle endeten.
Hengelbrock: Ein schöner Anfang, gemessen an den vollkommen unsinnigen Beschränkungen, die in Bayern oder Schleswig-Holstein gelten. Die Salzburger haben mit Umsicht, Mut und Beharrlichkeit ein Beispiel für die gesamte Kultur gegeben und gezeigt, dass es wunderbar funktioniert. Wir dürfen uns jetzt nicht ideologisch verkämpfen, sondern müssen uns mit klarem Kopf und ohne Angst die schönen und wichtigen Dinge des Lebens zurückerobern.
Wie ist die Stimmung im Orchester, nach Monaten ohne Live, wie im Chor?
Hengelbrock: Es hatte sich zwischenzeitlich bei vielen ein Gefühl der Ausweglosigkeit breitgemacht. Die finanziellen Nöte sind enorm, die Angst vor der beruflichen Zukunft als Freiberufler ist bei allen zu spüren. Wir hatten ja alle viel Zeit, um nachzudenken, was schön war in unserem Leben, und was wir ändern wollen oder gar nicht mehr brauchen. Und es war beglückend, zu erfahren, dass alle unsere Musiker gesagt haben: Wenn wir eins wollen, dann ist es, weiter in diesen Ensembles zu musizieren! Wir gehen in der künstlerischen und organisatorischen Leitung wirklich entschlossen und optimistisch voran. Wir sind erfindungsreich und solidarisch. Alle sind froh und stolz, zur Balthasar-Neumann-Familie zu gehören. Mit Hilfe unserer wunderbaren Hamburger Freunde und Förderer haben wir einen Fonds aufgelegt, mit dem wir bei unseren Musikern die größten finanziellen Sorgen lindern können. Wir haben die Musik, unsere spirituelle Nahrung. Dazu ein Publikum, das auf uns wartet.
Was bedeutet diese „Premiere“ für die deutsche Musik-Landschaft?
Hengelbrock: Dass es wieder losgeht. Dass Musik wieder möglich ist, auch Chormusik natürlich! Dass ein Leben ohne Risiko kein Leben ist, und dass ein Leben ohne Musik auch kein Leben ist.
Ein normales Konzert ist das nicht. Was heißt das für die eigene Nervosität?
Hengelbrock: Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Und normale Konzerte gibt es doch gar nicht, das ist doch jedes Mal etwas absolut Besonderes, und gerade jetzt ist es auch ein Fest des Lebens.
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Ist das noch ein Konzert oder schon eine Demonstration?
Hengelbrock: Zunächst ist es ein Konzert und eine Demonstration nur insofern, als es unseren Willen dokumentiert, wieder eine Balance zu finden. Die Ereignisse und Entscheidungen der letzten Monate haben Gräben in der Gesellschaft aufgerissen – wieder einmal. Für die Kultur ist es überlebenswichtig, dass es jetzt Perspektiven gibt. Viele Künstler, besonders die freien unter ihnen, fühlen sich verstoßen, mit dem Stempel versehen: unwichtig. Wenn der Gesellschaft und der Politik die Kultur wirklich wichtig ist, dann müssen sie sie jetzt ans Herz drücken.
Was muss passieren, damit dieses Konzert kein Einzelschicksal bleibt?
Hengelbrock: Wir brauchen mehr Mut! Ein besseres Zusammenspiel von Künstlern, Managern und Politikern. Weniger Hammer, mehr geschmeidiger Tanz. Feineres Besteck, um auf komplexe Herausforderungen mit Fantasie und Virtuosität zu antworten. Weniger Lobbyismus, auch in den Musikverbänden, weniger Paragrafenreiterei und mehr Besinnung auf das, um was es geht: durch Musik unser Leben besser und reicher zu machen.
Am 4. Dezember steht ein Konzert von Ihnen in der Laeiszhalle im Plan: Bachs h-Moll-Messe. Auch mit großer, nicht coronesker Besetzung in Orchester?
Hengelbrock: Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr wir unsere nächsten Konzerte herbeisehnen. Die h-Moll-Messe ist schon seit über 25 Jahren so etwas wie unser Ensemble-Geburtshaus, aus dem wir in die Welt gezogen sind, und in das wir alle fünf bis sechs Jahre zurückkehren. Ich hoffe sehr, dass wir nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum wieder möglichst vollzählig erscheinen können.
Konzerte in der Laeiszhalle: 5.10, 18.30 / 21 Uhr: Mozart-Arien und -Duette / „Jupiter“-Sinfonie KV 551. 4.12., 20 Uhr: Bach h-Moll-Messe.
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