Hamburg

So startet die Elbphilharmonie in wenigen Tagen die Saison

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Die Generalpause soll jetzt enden: Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, auf der noch leeren Bühne im Großen Saal.

Die Generalpause soll jetzt enden: Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, auf der noch leeren Bühne im Großen Saal.

Foto: Roland Magunia

NDR-Chefdirigent Alan Gilbert gibt beim ersten Konzert den Takt an. Doch die Corona-Krise ist damit noch nicht beendet.

Hamburg. Auf einem Notenpult liegt ein Stapel mit Corona-Verhaltensregeln, die Cafeteria ist gesperrt. Ansonsten: Instrumentenkisten, Stuhlstapel, das übliche Durcheinander nach einer Probe. Fast alles im Backstage-Bereich des Großen Saals der Elbphilharmonie sieht normal aus. Ist es aber natürlich nicht.

„Es gibt verschiedene Erfahrungsebenen“, ist der erste Kommentar von NDR-Chefdirigent Alan Gilbert in seiner Garderobe auf die Frage, wie sehr er sich darüber wundert, was er jetzt hier machen soll. „Ein Teil von mir fühlt sich sehr philosophisch … Ich denke über die Bedeutung des Lebens nach, über meine Entscheidungen, was es bedeutet, Musiker zu sein, wie enorm viel Glück ich habe, auch in diesen Zeiten arbeiten zu können.“

Andererseits: sieben Wochen frei, so viel wie noch nie zuvor. Ein Monat Termine in Japan waren weg. Stattdessen: Kochen, Segeln, Lesen, Filme, Geige üben mit der Tochter, zu Hause in Stockholm.

Elbphilharmonie-Saison startet mit Brahms-Sinfonien

Während der vergangenen Monate, meint Gilbert, sei er andererseits womöglich der meistbeschäftigte Dirigent der Welt gewesen, weil er dort oben das Opernorchester, das Rundfunkorchester und die Philharmoniker für Streaming-Projekte vor dem Taktstock hatte, denn der Umgang mit Corona war in Schweden anders als in Deutschland.

Obwohl – „Konzert“ ist in Schweden gerade sehr relativ. Momentan, berichtet er, seien 50 Menschen die Publikums-Obergrenze – egal, wie groß der Saal, egal, ob überdacht oder draußen. „Komplett idiotisch. Man kann 250 Menschen in einem Restaurant haben, aber sobald jemand eine Gitarre rausholt, sind nur noch 50 erlaubt.“

In der nächsten Woche muss, kann, will Gilbert wieder ran in Hamburg, überdacht. Den Auftakt der wild anderen Elbphilharmonie-Saison macht eine Kombination aus den vier Brahms-Sinfonien mit den Violinkonzerten von Prokofiev, die Solo-Parts teilen sich Lisa Batiashvili und Leonidas Kavakos. Mit im Saal bei Runde eins soll auch Bürgermeister Tschentscher sein.

Konzerte in der nächsten Woche sind ausverkauft

Es ist also viel mehr als „nur“ ein Konzert, eher eine Chefarzt-Visite. Kann ein Konzert in dieser Gegenwart Spaß machen? „Wir spielen hier und jetzt das, was auf der Bühne erlaubt ist. Wir sollten uns nicht schuldig fühlen, weil das an anderen Orten nicht möglich ist. Überall gibt es unterschiedliche Regeln, und das ist nicht für alle leicht.“

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„Viele haben die Angst geäußert, dass Menschen sich daran gewöhnen könnten, wenn ihnen die Konzerte genommen werden. Ich glaube aber nicht, dass das unausweichlich passieren wird. Aber es wird Zeit brauchen, bis Dinge wiederkommen. Und die Menschen werden kreativ werden.“ Ob denn auch das Publikum so schnell wie erhofft, ja: ersehnt und nötig wiederkommen wird?

Auch das werde Zeit brauchen, meint er. „Es ist verunsichert, und das ist verständlich. Es gibt keine Klarheit darüber, wie die Regeln sein sollten. Unsere Konzerte in der nächsten Woche sind ausverkauft. Aber ausverkauft meint jetzt etwas ganz anderes als früher, und das ging nicht über Nacht.“

NDR plant Jubiläumskonzert Ende Oktober

Was nach diesem ersten Wiederhochfahren kommt, nachdem es die meisten Pläne für die Jubiläums-Saison des NDR-Orchesters gerissen hat? Abwarten. „Wir wissen nicht, was passieren wird. Bis nächste Woche steht der Spielplan absolut fest“, witzelt Gilbert, wohlwissend natürlich, dass das gerade echt kein Spaß ist. Noch mehr als vor Corona wird das Residenzorchester tonangebend sein, weil so viele andere Ensem­bles und Solisten nicht kommen können.

Eine Asien-Tournee des NDR-Orchesters im Oktober ist geplatzt, also wird es Heimspiele geben. Mindestens zwei Dirigenten können im Herbst nicht kommen, Gilbert wird dann vielleicht übernehmen. Seine USA-Termine im November, in Boston, Philadelphia, Cleveland – alle weg. Tschaikowskys Fünfte mit dem NDR im Jubiläumskonzert am 30. Oktober, genau wie beim Geburtskonzert 1945 im Großen Saal der Laeiszhalle?

Große Besetzung, also: ganz großes Fragezeichen. Ein riesig besetztes Auftragswerk von Mark-Anthony Turnage sollte erklingen, „ich glaube nicht, dass das möglich sein wird“, meint Gilbert. „Aber die Partitur habe ich noch“, falls sich die Abstands-Regeln für Orchester bald etwas gnädiger darstellen. Der Blick auf den Start damals liegt nah, auch wenn es keine direkte Parallele gibt. „Damals wurde eine wichtige musikalische Institution ins Leben gerufen“, sagt Gilbert, „die Geschichte ist für uns eine Verpflichtung für die Gegenwart und Zukunft, und jetzt versuchen wir zu zeigen, dass wir noch da sind, für die Menschen. Die Tatsache, dass wir ein Rundfunkorchester sind, hat sehr viel Kraft.“

Künstler brauchen einen belastbaren Plan

Wie wird es weitergehen? Wird die Branche sich grundsätzlich ändern? Oder wird bald alles wieder in etwa so sein wie vor Corona? „Die Idee der Spontanität ist plötzlich sehr real. Wir planen jetzt sehr kurzfristig“, ist eine Antwort darauf, sehr nervös mache ihn aber, dass es eine Art Echo auf Ideen aus der rechten Ecke gäbe, man solle sich nun nur innerhalb seiner nationalen Grenzen bewegen. Keine ausländischen Künstler, keine Reisen. „Das Star-System ...? Das ist sehr komplex … Aber wichtig ist allein die Musik.

Das klingt etwas schlicht, aber es ist doch so: Die Details, dieses oder jenes Tempo … Die eigentliche Idee des Teilens von Musik mit dem Publikum ist sehr pur, das ist fundamental und hat Poesie.“ Andererseits und außerdem: „Wenn das alles noch Jahre dauern sollte, hilft es uns nicht, mal eben vier Tage lang an der nächsten Straßenecke zu spielen. Dann brauchen wir einen belastbaren Plan.“

Ob drei Jahre Elbphilharmonie genügten, um Hamburg zu einer Stadt werden zu lassen, die auf Musik weder verzichten kann noch will? „Das wird so bleiben“, ist sich Gilbert sicher, räumt aber auch ein: „Kann sein, dass es etwas dauert, bis der Schwung wieder da ist.“ Ein anderes akutes Problem, die Sparpläne für den NDR Chor, umschifft Gilbert so diplomatisch, wie es geht: „Ich weiß nicht, was die richtige Antwort ist und vertraue denjenigen, die im NDR Entscheidungen treffen, dass sie das Richtige tun.“ Manche Krisen ähneln sich.

Termine: 1.9.20 Uhr: Prokofiev 1. Violinkonzert, Brahms 2. Lisa Batiashvili (Violine). Das Konzert wird live ins Vorplatz-Konzertkino übertragen. Stream: elbphilharmonie.de. Weitere Konzerte bis 5.9. Am 1.9., 11 Uhr, beginnt der Kartenverkauf für sechs NDR-Konzerte: 4.10. 17/19.30 Uhr: Mozart „Jupiter“-Sinfonie und Violinkonzert KV 219 (Solist: Roland Greutter). 12.10., 18.30/21 Uhr mit Sheku Kanneh-Mason, Saint-Saëns‘ Cellokonzert u. Schumanns 2. 20.10. 18.30/21 Uhr: Esa-Pekka Salonen dirigiert Strauss’ „Metamorphosen“ u. Ravels „Ma Mère l’Oye“