Hamburg. Die letzten und die nächsten Monate hatte sich der Intendant Georges Delnon ganz anders gedacht, so viel ist schon mal klar. Doppelte und dreifache Planungs-Arbeit, während es auf der Bühne der Staatsoper seit Monaten still ist und man Live-Publikum nur noch aus Erinnerungen kennt. Epochale Ungewissheiten. Dass hinter der Fassade kein Stillstand herrscht, mit Proben und Bauproben, bleibt ja vorerst hinter den Kulissen. Klar ist wegen Corona inzwischen aber auch, dass aus der Idee, Frank Castorf zum Saisonstart am 5. September ausgerechnet eine der ganz großen Chor-Opern des Repertoires inszenieren zu lassen, nichts werden kann. Deswegen also: Kein „Boris Godunov“ mit Sängermassen auf voller Lautstärke, stattdessen eine sehr „sehr bewusst überschaubare“, sehr spezielle Spezialanfertigung, die den Namen „molto agitato“ erhielt. Was als musikalische Vortragsbezeichnung passt, denn sehr bewegt und unruhig sind die Zeiten ja, bis auf weiteres.
Mit „klassischer“ Oper und Saisonstart-Sause hat das Alternativ-Format allerdings nichts zu tun, die Mischung besteht aus Weills „Sieben Todsünden“ (Brecht-Text, „satirisches Ballett“ mit Gesang), dazu Ligetis „Nouvelles Aventures“ (eine Art Kurz-Oper, „radikal sinnlose Texte“ (Ligeti) für drei Singstimmen und sieben Instrumente) und Brahms’ Vier Gesänge op. 43 für Stimme und Klavier (darunter „Von ewiger Liebe“, eines seiner bekanntesten Lieder). Weil Castorf in Zusammenarbeit mit Kent Nagano all das auf eine Bühne stellen wird, könnte es noch Texte oder andere Zutaten geben, berichtet Delnon.
Das erwartbare Corona-Notsortiment, Kleinformatigeres wie Schönbergs „Erwartung“ oder Bernsteins „Trouble in Tahiti“, sollte es ausdrücklich nicht sein, so Delnon. „Für mich geht es nicht darum, trotz Einschränkungen das durchzuziehen, was man geplant hatte. Da wären zu viele gesundheitliche Risiken sowie künstlerische und qualitative Abstriche zu machen. Außerdem: Die Kunst sollte sich verhalten zu dem, was jetzt passiert. Wir brauchen diese Reflexion. Wollen wir Menschen zeigen, die ihr Selbstverständnis, die Bühne und die Musik zurückerobern und welche Mittel geben wir uns dazu? Das ist der Grundgedanke. Eine spannende Herausforderung. Wir sollten nicht an dem Wettbewerb teilnehmen, wer möglichst schnell mit möglichst großen Produktionen wiederaufmacht.“
Hamburgische Staatsoper: Es gibt keine Aufschläge zu Corona-Zeiten
Es sollen nicht nur Haus-Stimmen zum Einsatz kommen, sondern auch Gäste, darunter die Schauspielerin Valery Tschplanowa und Bariton Georg Nigl. Dabei könnten sich durchaus bis zu 40 Personen auf der Bühne verteilen, schätzt Delnon die Größenordnung dieses Abends ein. Castorfs Regie-Auftrag für einen neuen „Boris“ sei deswegen aber nicht aufgehoben, sondern mit tunlichst allen Erst-Teilnehmern aufgeschoben, „ein bisschen weiter weg“, wegen des Domino-Effekts der gestrichenen Inszenierungen und der dafür engagierten Besetzungen geht so etwas Komplexes nicht früher. Auch Delnons eigene Inszenierung von Messiaens monumental groß besetzter Oper „Saint François d’Assise“ – Premiere hätte Mitte Mai in der Elbphilharmonie sein sollen – kann noch auf eine Auferstehung hoffen, wenn auch nicht in der näheren Zukunft. Und die Anfang Mai ausgefallene neue „Elektra“-Produktion könnte noch in der nächsten Spielzeit eine zweite Chance für einen ersten Eindruck erhalten.
Der Rest dieser besonderen Spielzeit ab September? Das wird sich noch weisen müssen. Am 7. August, kurz nach dem Ende der Sommerpause, will die Staatsoper die Programm-Absichten für die Zeit in etwa bis zum Jahresende verkünden, ein weiteres Thema dort wird auch die Preisgestaltung sein: „In einem ausgewogenen Segment unserer gewohnten Preisstruktur, es gibt keine Aufschläge zu Corona-Zeiten.“
Schon im September stehen bislang noch einige Großformate im Alt-Plan: Wagners „Tristan“, Verdis „Rigoletto“ unter anderem, beides keine Kammerbesetzungen, und am 18. Oktober schon die nächste Premiere, eine „Fledermaus“, all das wird womöglich ersetzt werden müssen. „Eines ist klar, wir möchten unbedingt wieder zurück zu der Möglichkeit des Repertoires im vollen Umfang.“ Anfang August soll auch die szenische Probenarbeit für „Molto agitato“ beginnen.
„Molto agitato“ wird nicht länger als zwei Stunden dauern
Damit wäre zwar die nächste klaffende Lücke im Spielplan geschlossen, das Grundsatz-Problem bei Proben und Aufführungen (Stichworte: Aerosole, geschlossener Raum, angesungen werden), das bleibt erhalten und schwierig. „Wir kennen natürlich die Vorgaben und entsprechenden Distanzen, damit muss man verantwortlich und klug umgehen.“ Deswegen also: kein volles Haus mit 1690, sondern etwa 400 Plätze, „denn wir wollen überhaupt kein Risiko eingehen“. Ob man das eventuell anpasst, wie in der Schweiz und Österreich, wo die Regeln lockerer sind, werde man sehen.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Live-Kultur: Was Hamburg plant und was anderswo erlaubt ist
- Das erste Konzertchen nach dem Lockdown
- Corona-Krise: Jetzt hilft die Kultur den Pflegekräften
„Ich bin im Zweifelsfall immer für die Vorsicht. Aber die Wirtschaftlichkeit der großen Häuser muss mit der Zeit wieder stimmen, sonst ist überhaupt Oper in dieser Form in Frage gestellt.“ Zum sicher tiefroten Kassenstand sagt Delnon „wir haben eine Idee davon, aber ganz viel ist noch nicht diskutiert und ausgehandelt“ und verweist auch auf die Zahlung von Ausfall-Gagen für die gestrichenen Vorstellungen und Engagements. Das sei, in Absprache mit anderen Opernhäusern, in Hamburg, in der Gegend von 20 bis 25 Prozent. „Das gilt für das, was war, aber nicht unbedingt für das, was im Herbst kommt.“
Lieber Unperfektes jetzt bieten als gar nichts? „Die Frage, ob man eine amputierte Großproduktion spielt oder sich etwas Neues überlegt – da hat man die Freiheit sich zu entscheiden, was einem wichtiger ist.“ Und ob gerade deswegen viele entscheiden, sich so schnell nicht wieder in einem Opernhaus ansingen zu lassen? „Molto agitato“ werde nicht länger als zwei Stunden dauern, es gebe auch keine Pause, sagt Delnon, und die Zugangssituationen für das Publikum werden geregelt. „Wir versuchen, es von unserer Seite her möglichst einladend zu gestalten.“ 110.000 Abrufe bei den Digital-Angeboten der Staatsoper sprächen eine klare Sprache. „Man sieht, das Bedürfnis ist da. Und ich kann mir vorstellen, dass sich bis September auch vieles im Umgang mit Corona verändert.“
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kultur & Live