Kultur in Corona-Zeiten

Literaturhaus Hamburg: „Man muss ja mal raus“

| Lesedauer: 7 Minuten
Joachim Mischke
Eine Lesung mit reichlich Beinfreiheit: Achatz von Müller (l.) und Joachim Kersten erinnerten im Literaturhaus an Joachim Maass.

Eine Lesung mit reichlich Beinfreiheit: Achatz von Müller (l.) und Joachim Kersten erinnerten im Literaturhaus an Joachim Maass.

Foto: Marcelo Hernandez

Mit einem wohltemperierten Abend über Leben und Werk des Hamburger Autors Joachim Maass meldete sich das Literaturhaus zurück.

Hamburg. Die jahrhundertealte, wichtige Kulturtechnik des Dösens in Gesellschaft ist so unvergessbar wie Fahrradfahren. Die geht nicht weg, die kriegt selbst der übelste Virus nicht klein und aus dem Körper raus, auch nach Monaten ohne Abendtermin mit Live-Publikum nicht. Kaum ist man wieder unterwegs, bietet sie sich als stumme Abendbegleitung an. Wie schön dann wieder, dieses Nichtganzschlummern im Sitzen, umgeben von Menschen, die ähnlich zweidrittelwach und gleichzeitig aufmerksam genug sind. Oder wenigstens sehr gekonnt so tun können.

Literaturhaus, Mittwochabend, die erste Lesung seit zweieinhalb Monaten, statt 140 Karten wurden 22 vorab verkauft, sehr flott. Mit Begleitpersonen kommt das Publikum auf luftige 30 Menschen, verteilt auf Plätze, die wie Felder beim Schiffeversenken durchnummeriert sind. Gediegenes Stammpublikum größtenteils, von dem man ahnen mag, dass es die vor Jahrzehnten unter Altbau-Stuckdecken aufgestellten Bücherwände nicht mit Diddelmäusen füllt, bloß weil auch die in vielen Buchhandlungen angeboten werden.

Trotz der Maskenpflicht erkennen sich einige schnell wieder. Stammgäste wohl, wie Hartwig von Bernstorff, der mit seiner Frau Clarita am Ecktisch auf Platz A 1 und A 2 auf den Beginn wartet. Seit 30 Jahren hätten sie etwas vom Autor des Abends im Regal stehen gehabt, seine Frau hätte es nun zuerst gelesen, „sie liest beidhändig“, reicht er als kleine Vielleser-Pointe hinterher. Nach etlichen Wochen ohne Termine hier, im Theater oder mit Konzerten in der Elbphilharmonie galt aber auch sehr dringend: „Man muss ja mal raus.“

Es ist, wie es ist. Jetzt mal nicht übermütig werden

Rote Pfeile auf dem Boden, Handspüli am Eingang, bloß kein Händeschütteln. Neue Normalität. Die erste Lesung seit zehn Wochen, zurück aus dem Off und dem ständigen Selberlesen, da könnte man glatt meinen, dass Literaturhaus-Chef Rainer Moritz für das Comeback groß auftischt, unter dem neonbunten Motto: Hurra, wir lesen noch! Prominente Schnelldreher-Autoren, Krimi, was mit viel Provence oder eine weitere Edelfederin-Mid-Life-Krise, zuhause an der Elbchaussee? Genau das Gegenteil aber passiert. Normalität, unterspektakulär und so dezent wie hanseatisches Dunkelblau vom Familien-Schneider; was vor Monaten in den Kalender gebucht wurde, als die Welt anders war, ist nun eben dran. Es ist, wie es ist. Jetzt mal nicht übermütig werden. Auch beruhigend, diese unaufgeregte Kontinuitäts-Haltung, passend zur Patina des Raums.

Ein gewisser Joachim Maass steht also für gut 90 Minuten im Mittelpunkt, dort postiert auch durch die Elsbeth Weichmann Gesellschaft. Joachim wer? Eben, und: willkommen im Club. In seiner Begrüßung – Schal runter, Mikro auf – nennt Moritz den Hamburger Autor, 1901 hier geboren und 1972 in New York gestorben, „gründlich vergessen“. Er selbst, oder besser: selbst er?, habe auch nur ein Buch von ihm, den Roman „Die unwiederbringliche Zeit“, anno 1935 erschienen. Zwei Häuser weiter nur, Schwanenwik 33, sei Maass als Sohn aus gutbürgerlichem Hause mit Alsterblick aufgewachsen, mit Johanneum im Lebenslauf und was man dann so machte und kannte in dieser leise schönen Gegend, all das wird wenig später als Einstiegs-Information zu hören sein.

Textpassagen wie eine Light-Version von Thomas Mann

Dass ein gründlich vergessener Autor hochinteressant und womöglich sogar historisch wichtig sein kann, der bei der ersten Begegnung mit Textpassagen wie eine Light-Version von Thomas Mann wirkt, ist das Anliegen der beiden bewährten Prosa-Fachkräfte: Achatz von Müller, Historiker, und Joachim Kersten, ebenfalls Literatur-Experte, auf dem erhöhten Podium. „So leer habe ich das hier noch nie gesehen“, hatte Kersten gut hörbar gestaunt, nachdem er seine Maske abgenommen hatte. Müller redet, Kersten redet hin und wieder sekundierend und klug dazwischen. Mit so schön abgehangenen Formulierungen wie „Stattdessen nun ein Wort zum Idyll...“ schaffen die beiden es, in wenigen Minuten den Ruhepuls aller Anwesenden nach unten zu bringen und dort zu halten.

Literatur-Termine:

  • Die nächsten Veranstaltungen, darunter am 9. Juni ein „Philosophisches Café“ über „Selbstbestimmung in Zeiten der Pandemie“, ein Flannery-O’Connor-Abend mit Leslie Malton am 10. Juni oder das „Gemischte Doppel“ mit Annemarie Stoltenberg und Rainer Moritz am 17. Juni, sind bereits ausverkauft. Die Platzzahl ist ohnehin stark reduziert. Für einen Abend mit Leona Stahlmann am 11. Juni gibt es derzeit noch Plätze. Weitere Infos unter: www.literaturhaus-hamburg.de

Kersten hatte zunächst eine Passage aus Maass’ Roman „Das magische Jahr“ rezitiert, in dem die Alsterschwäne („die hamburgischsten aller Geschöpfe“) sich letztlich als weißgefiederte, hassenswerte Kleinbürger-Metaphern entpuppen sollten. Davor hatte es eine Passage gegeben, die mit einem Besuch im Schauspielhaus beginnt und angesichts der ausbrechenden Novemberrevolution 1918 mit der Selbst-Erkenntnis des jungen Autors endet, das sei nun „die Stunde meiner geistigen Geburt“. Später, ach, ging es, auch schön formuliert, um Kleist und den Prinzen von Homburg. Das alles hat was von frühem Deutsch-Leistungskurs, aber als Surround-Hörbuch.

Zum Schluss einen „Spiegel“-Leserbrief vom Mai 1968

Unter der Decke des Saals sind übrigens 32 Putten-Köpfchen zur Zierde angebracht, doch die Antwort auf die Frage, wie viele Kristallglas-Tropfen an einem der zwei Kronleuchter hängen, muss bis zur nächsten Lesung warten. Denn geisteswissenschaftlicher Höhepunkt und schönste supporting Requisite sind nicht die literarischen Maass-Arbeiten, aus denen wohltemperiert vorgelesen wird, sondern ein offenbar originales „Spiegel“-Heft vom Mai 1968. Müller holt es aus seiner Aktentasche, um wenigstens den Schluss des Leserbriefs zu präsentieren, in dem Maass von New York aus die Studentenunruhen in Deutschland kommentiert hatte. Und während es draußen sanft sommerdämmert und kein Schwan auf der Alster in Sicht schwimmt, ist danach tatsächlich schon Schluss.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden