Einiges an den Planungen erinnert dabei an Hamburg. Prominentester Fürsprecher dort ist der Dirigent Sir Simon Rattle.
Hamburg. Vieles an dieser Vision kommt einem aus Hamburger Perspektive durchaus bekannt vor: Spektakuläre Entwürfe für ein Konzerthaus-Gebäude aus einem international gefragten Architekten-Büro. Diesmal ein strahlender futuristischer Turm, wie aus dem nächsten James-Bond-Film geleast, als Heimat für das „London Centre for Music“, das – wenn denn alles gut geht – nach vier Jahren Bauzeit als Teil der neuen „Culture Mile“ in den dortigen Nebel ragen soll.
Das pyramidonale Äußere stammt von der Architektin Liz Diller, ihr New Yorker Büro Diller Scofidio + Renfro (DS+R) hat mit dem „High Line“-Park auf einer umgewandelten Zugtrasse im Westen von Manhattan für internationales Aufsehen gesorgt, der Park hat rund acht Millionen Besucher jährlich. Dillers Entwurf für die britische Hauptstadt hat Mitbewerber wie Frank Gehry, Sir Norman Foster und Renzo Piano rechts überholt. Teil des Design-Teams, die Welt ist klein, ist Nagata Acoustics, die Firma des Elbphilharmonie-Akustikers Yasuhisa Toyota. Erfahrungen mit Konzertsälen hat DS+R beim New Yorker Lincoln Center gesammelt. Im April soll, ebenfalls in Manhattan, das von DS+R entworfene Kulturzentrum „The Shed“ eröffnen, Kosten: 500 Millionen Dollar.
Standort in Premiumlage
Optische Anspielungen auf den in sich leicht verdrehten Erweiterungsturm des Londoner Avantgarde-Museums
Tate Modern könnten der reine Zufall sein. Dieser Turm wiederum, nicht weit entfernt auf der anderen Seite der Themse, wurde von den Elbphilharmonie-Architekten Herzog & de Meuron neben das längst weltbekannte Haupthaus gestellt. Den Schwung, den der Touristenmagnet Tate Modern in Londons Museumsszene brachte, hofft man nun natürlich zu wiederholen. Denn durch den geplanten Umzug des Museums of London – wohl nicht vor 2023 – bietet sich die Chance, an einer Prestigeadresse groß zu denken und großartig zu bauen.
Die neue Kultur-Immobilie hätte, ähnlich wie das Mehrfachfunktions-Konzerthaus an der Elbe, einen Standort in Premiumlage. Aber eben mitten in London, einer der teuersten Metropolen der Welt, in der Nachbarschaft von St. Paul’s Cathedral; und es gibt eine erste Kostenansage, die Zweiflern wie Jublern signalisieren soll: Ach na ja, das ließe sich hier doch wohl wuppen. 288 Millionen Pfund, noch rund 330 Millionen Euro, sind momentan für das Gebäude-Spektakel aufgerufen.
Für manche Oligarchen mit Londoner Nebenwohnsitz wäre das eine Summe, deren Überweisung sie eher kurz spüren würden. Doch hinter jedem nicht ganz schadenfreudefreien Fingerzeig auf die letztlich deutlich teurer gewordene Elbphilharmonie folgt der Nachsatz, dass man auf die Belastbarkeit des ersten Preisschilds lieber keine Eide schwören sollte.
Moderne Projektionstechnik
Nur am Rande bemerkt, nicht ganz unwichtig: Die gesamte Finanzierung ist momentan komplett unklar. Mehr als 2,5 Millionen Pfund von der City of London, auf deren Areal der Saal entstünde, für die nächsten Planungsschritte sind noch nicht vorhanden. Andererseits: Schon als man Ende der 1980er-Jahre in Los Angeles beschloss, sich von Frank Gehry die Walt Disney Concert Hall als ein Wahrzeichen à la Bilbao maßschneidern zu lassen, hieß es optimistisch „Build it and they will come“. Menschen wie Moneten waren gemeint, beides klappte bestens.
Als Argumentations-Bonus für den Ton-Turm zu London ist auch einer der berühmtesten Dirigenten der Welt mit im Boot, der diesen Architektur-Traum und dessen kulturelles Potenzial toll findet. Seinen Posten beim berühmtesten Orchester der Welt, den Berliner Philharmonikern, hat Sir Simon Rattle schließlich auch mit der festen Absicht verlassen, an der Themse ein Kapitel Musikgeschichte zu schreiben: Indem er dem London Symphony Orchestra (LSO) als dessen neuer Chef eine Spielstätte organisiert, wie es das LSO verdient, und wie sie die Klassik-Welt noch nicht gesehen hat.
Als blutjunger Dirigent hatte er mit einem neuen Saal in Birmingham eine Stadt elektrisiert und ein vorher solides Orchester verwandelt. Seit etlichen Jahren muss sich das LSO mit den Gegebenheiten im ganz in der Nähe stehenden Barbican arrangieren. Das neue Zentrum, wenige Minuten von diesem brutalistisch gestalteten Betonklotz entfernt, wäre ein drastisches, mutiges Update.
Wichtiger Bestandteil des DS+R-Gebäudes soll – da lässt Hamburg erneut grüßen – eine Plaza sein, hier allerdings ebenerdig und unterhalb des Konzertsaals verlaufend. Dazu kommt Gastronomie. Das Herzstück aber wäre der „akustisch perfekte“, holzvertäfelte Saal: 2000 Plätze, in den Entwürfen weinbergig und ähnlich steil wie die Elbphilharmonie. Durch moderne Projektionstechnik können alle Wandflächen beliebige Oberflächen vortäuschen. Außerdem soll der Saal „breakout areas“ zwischen den Publikumsreihen erhalten, in denen Musiker spielen können. Und als besonderes Gimmick gäbe es „education pods“, kleine Räume mit Panorama-Blick auf das Saalinnere, in denen Schulgruppen das Geschehen auf der Konzertbühne verfolgen und Zusatzlehrstoff erhalten können.
Diese wegweisende Idee hatte Rattle, nach einem Besuch des Berliner Reichstags, in dem es für die Besucher Sichtachsen in den Sitzungssaal gibt. In der Spitze des Music Centres kommt eine Clubbühne namens „Coda“ für Jazz und Zeitgenössisches. Unterhalb davon gäbe es vier Etagen für kommerzielle Nutzungen. Was und wie, ist noch nicht klar; klar ist nur, dass diese Höchstpreis-Flächen entscheidend zu den Betriebskosten des Gebäudes beitragen sollen. Auch das weckt Erinnerungen an die Elbphilharmonie-Frühphase.
Sollte man in London nicht gerade jetzt – Stichwort Brexit – über andere Zukunftsthemen nachdenken als einen Konzertsaal? Rattles rhetorisch smarter Konter, zitiert im „Guardian“: „Jetzt ist nie die richtige Zeit, um etwas Neues zu tun.“ Bislang ist das alles vor allem guter Willen und Zweckeuphorie. Zukunftsmusik. Doch genau so hat es vor zwei Jahrzehnten mit der Elbphilharmonie auch begonnen.