Salzburg. Beethovens Musik und Kleists Sprache, aus der gleichen Epoche stammend, sind klassische Seelenverwandte. Beide lassen sich von ihrem dramatischen Rhythmus zum Ereignis treiben, beide streben eigensinnig nach ewiger Größe und Ruhm, erhofft, pathetisch durchlitten, erkämpft bis aufs letzte bisschen Herzblut. Mattes, lauwarmes Mittelmaß sollen andere. Kein allzu großes Wunder also, dass Kleists „Penthesilea“, diese grausame Geschlechterschlacht am Rande des Trojanischen Kriegs, bei den Salzburger Festspielen zur Renommeesteigerung ins Schauspiel-Programm Eingang fand.
Aber eben nicht als dekorativ bespaßender Massenauflauf mit funkelnden Rüstungen, Pfeil und Bogen und sonstigem Sandalenfilm-Brimborium, sondern als anstrengende, streng durchkomponierte Blankvers-Sonate für zwei Riesen-Egos. Ein Destillat aus Duo und Duell, für strapazierfähige, leidensfähige Ausnahmeschauspieler, die ein Verbalballett ausfechten, bis jemand stirbt, weil es immer und immer einen Sieg des Einzelnen über die Mächte des Schicksals geben muss.
Auf Hüllers Bauchmuskeln könnte man Parmesan raspeln
Jens Harzer, Mitglied des Thalia-Ensembles und dort gern der Spezialist für die extra markanten Außenseiter, und Sandra Hüller, auf ihre Weise anders radikal, sind die zwei voneinander geliebten Endgegner dieses Beziehungs-Dramas, die „wie zwei Sterne aufeinanderschmettern“. Zwei Körper, eine Choreografie, von oben bis unten aus Müssen und Sehnen bestehend. Hüller präsentierte in ihren Amazonen-Posen einen Satz Bauchmuskeln, auf denen man mühelos größere Mengen Parmesan reiben könnte, in einer kurzen Szene stand Harzer komplett textilbefreit schutzlos im Rampenlicht. Körperspannung und Körpersprache. Ein kräfteverbrennender Schaukampf zweier Kannibalen, die sich (füreinander) verzehren, die sich immer wieder ineinander verhaken, voneinander losreißen, um nur Momente später wieder aufeinander loszugehen. Szenen keiner Ehe. „Küsse, Bisse, das reimt sich …“, heißt es hier nicht zufällig bei Kleist.
Das Bühnenbild formte einzig das Textgebirge, dazu gab es nur ein schwarzes Nichts, ein zeitloses All ohne Deckung oder Rückzugsorte, mit einem in der Ausdehnung variablen Lichtspalt auf dem Boden als unfassbare Grenze des zu Sagenden. Der „Schreckenspomp des Krieges“ blieb ungezeigte Behauptung. Zwei minimalistisch gefüllte Stunden, keine Pause, kein Erbarmen (auch nicht mit dem Publikum in den harten Landestheater-Stühlchen). Regisseur Johan Simons hatte Kleists Trauerspiel für dieses Power-Paar von allen ablenkenden Nebencharakteren und Requisiten bereinigt; nur noch die Amazonenkönigin und der Kriegsheld waren auf dem Schlachtfeld der Gefühle zugelassen. Der Schöne und das Biest.
Sie sprachen dort unentwegt mit und über sich, in höchsten Tönen sangen sie sich Oden auf ihre Erhabenheit vor. Als der Zweikampf begann, tigerten sie – beide in langen Röcken, Hüller mit einem Brustband, Harzer im Unterhemd – als androgynes Zwillingspaar in Ninja-Schwarz hin und her, dampfend vor furchtferner Angriffslust, stolze Raubtiere oder blutsüchtige Boxer, die die Lücke in der Deckung für ihren ersten lucky punch suchen. „Ich, nur ich weiß den Göttersohn zu fällen“, wird Penthesilea später in einer Szene behaupten, obwohl es genauso wahr auch andersherum sein kann. Je mehr Weiches sich Achilles in schwachen Momenten erlaubte, desto brachialer konnte Penthesilea werden.
Und obwohl sie ganz und gar in ihren Rollen aufgehen sollten, konnten Harzer und Müller auch nicht so ganz aus ihrer jeweiligen Schauspielvirtuosen-Haut heraus. Gut dosiert panierte Hüller ihr Rasen mit einer ironisch verspielten Girlie-Leichtigkeit, die mehr zu einem Prinzesschen als einer gusseisernen Königin passte. Harzer wiederum gönnte sich einige der ölig nöligen Aussprache-Harzerismen, mit denen er seinen Charakteren oft einen kleinen Abstecher-Schleichweg ins unernst Ungefähre anbietet. Doch immer wieder wurden beide von der Kraft der Erzählung wieder an die Wort-Waffen zurückgepfiffen. Die ersten Begegnungen liefen noch auf ein Unentschieden hinaus, mal war er stärker und verschonte sie, mal rettete sie ihm das Leben. Nach dem tänzelnden Einstieg kamen beide tatsächlich zueinander und zur Ruhe, sie näherten sich vorsichtig an, entdeckten einander behutsam im kalten Schein des Lichtspalts, der sie äußerlich erhellte und innerlich erleuchtete. Und zeigt, dass es auch mal nett sein kann, zwanglos und harmlos miteinander zu sprechen. Nach einer Stunde der erste Kuss, die erste Berührung, die nicht auch Angriff oder Verteidigung sein sollte.
Auf diesem schmalen Grat war es dann auch, wo Harzers Achill Müllers Penthesilea die eigene Ferse als Angriffsziel anbot und sie liebevoll und sanft an dieser Delikatesse knabbernd zubiss; ein hintersinnig servierter Vorgeschmack auf die letzte, tödlich endende Runde, die mit dem Blutrausch Penthesileas endete. Jene Szene, in der sie ihm ihren Pfeil durch den Hals schießt und die reflexhaft erlegte Beute dann gemeinsam mit ihren Hunden zerfleischt, ließ Simons einmal von ihm und einmal von ihr erzählen, um noch weiter zu verunklaren, wer hier Jäger war und wer das Gejagte.
Das Ende nach diesem Ende, nachdem beide ihren unvereinbaren Lebens-Maximen gehorcht hatten: ein letztes Unentschieden. Als wäre alles nur ein einziges Schattenboxen gewesen, wanderten die beiden aus dem Licht am Bühnenabgrund zurück ins Dunkel, „Verzeihst du mir?“ und „Von ganzem Herzen“, in einem ganz und gar unklassischen Plauderton fallengelassen, der das Drama mit diesen wenigen Worten ins Hier und Jetzt brachte. Die enorme Leistung dieses umjubelten Kraftakts endete so beiläufig, als wäre zuvor fast nichts gewesen, mit einer letzten Finte.
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