Kultur

Bernstein, der Alleskönner

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Joachim Mischke

Am 25. August wäre der Komponist und Dirigent 100 Jahre alt geworden. Das SHMF widmet ihm einen Programm-Schwerpunkt

Sein größtes Glück, sein größtes Drama: Er musste sich nie endgültig für etwas – und damit endgültig gegen etwas anderes – entscheiden. Leonard Bernstein, der am 25. August 100 Jahre alt geworden wäre, wollte nicht „nur“ Komponist sein, „nur“ Dirigent, „nur“ klassischer Showmaster und Klaviervirtuose, „nur“ Universitätsprofessor oder Repertoire-Rabbi, der ein Stück als Gottesbeweis hinterfragte, wobei er sich nicht immer auf eine Religion festlegen mochte.

Er war auch Musikvermittler für junges, staunendes Publikum und Anwalt für zeitgenössische Musik aus den USA, moralisches Gewissen einer Künstlergeneration und Everybody’s Darling (das galt für Frauen wie für Männer). Er konnte all das sein. Das meiste davon gleichzeitig und kräfteverbrennend hochtourig.

„Was immer mir im gegebenen Moment als richtig erscheint, muss ich tun“, schrieb er über sich, „Ich mache euch glücklich“, versprach er dem Rest der Welt. Man ließ ihn gern, weil er dieses Versprechen zuverlässig einhielt; sein Schicksal war auf Chancenlieferung und Horizonterweiterung abonniert. Mitten im 20. Jahrhundert war das in Massachusetts geborene Kind jüdischer Einwanderer ein wiedergeborener Renaissance-Künstler, der mit enzyklopädischem Wissen ebenso leidenschaftlich um sich warf wie mit eigenen Thesen über das Wesen und die Bedeutung von Musik.

1957 erlebte die „West Side Story“ ihre Uraufführung

Wie in jedem sensationellen Lebenslauf gab es den einen Tag, der alles änderte: Bernstein hatte in Harvard und Philadelphia studiert und war, 25 Jahre jung, ehrgeizig und lebenshungrig, als „Assistant Conductor“ beim New York Philharmonic auf einem guten Karriereweg. Am 13. November 1943 hatte er sich einen feuchtfröhlichen Abend gemacht, am Morgen des 14. November klingelte das Telefon: Bruno Walter, der Bruno Walter sei erkrankt und könne sein Konzert, das landesweit im Radio übertragen werden sollte, nicht dirigieren. Nur sechs Stunden später, ohne Probe und sicher nicht restalkoholfrei, warf sich Bernstein ins Risiko und dirigierte unter anderem Strauss‘ „Don Quixote“. Schlagzeilen, Sensation, Drama, Baby!

Lennie war mit diesem Konzert weit mehr als nur der „Talk of the Town“. 1958, nachdem er international Erfahrung gesammelt hatte, wurde er Chefdirigent dieses Orchesters, der erste Amerikaner, der jüngste überhaupt. Er war der erste Amerikaner im Graben der Mailänder Scala; er war der erste, der die Wiener Philharmoniker dazu brachte, sich für Mahlers Sinfonien zu öffnen. Zweiter sein, das war einfach nichts für ihn.

Die „West Side Story“, 1957 nach acht Jahren Arbeit uraufgeführt, war nicht Bernsteins erster Flirt mit dem Musical-Genre, aber – nach verhaltenem Start – sein mit Abstand erfolgreichster. Auch weil er, Choreograf Jerome Robbins und Texter Stephen Sondheim sich für den erhofften Erfolg am Broadway am Besten orientierten: an Shakespeares „Romeo und Julia“. Aus dem Liebespaar in Verona wurde eine Teenager-Geschichte im New York der Gegenwart. Und in der Partitur versteckte er, ähnlich raffiniert wie der von ihm hassgeliebte Wagner, viele Leitmotive, die subtil durch die Geschichte lotsten.

Typisch für Bernstein, dass er in diesen Triumph auch ein Scheitern auf anderer Ebene hineinlas: Sein kompositorischer Ehrgeiz, der enorme Appetit aufs Geliebtwerden, zielte langfristig eher auf eine Nachfolge seines Idols Gustav Mahler; als Broadway-Hit-Lieferant fühlt Bernstein sich einengend unter Wert gewürdigt. Dafür war sein Werkkatalog viel zu abwechslungsreich gefüllt: drei Sinfonien („Kaddish“, die Dritte, widmete er John F. Kennedys Andenken), fünf Musicals, drei Ballette, zwei Opern, das genreübergreifende „Mass“, Orchesterwerke, in denen immer wieder auf große philosophische Themen angespielt wurde, und natürlich auch Filmmusik – für „On The Waterfront“ („Die Faust im Nacken“). Seine Harvard-Vorlesungen, die er 1972/73 hielt und in Anspielung auf eine Komposition seines Landsmanns Charles Ives „The Unanswered Question“ nannte, ließ mit ihrem Erkenntniswert kaum eine anspruchsvolle Frage offen.

Für seine „Young People’s Concerts“ gab es zehn Emmys

Eine andere große Begabung spielte Bernstein mit cooler Lässigkeit aus und nutzte dabei auch das Medium Fernsehen, um zu lehren und zu inspirieren: Seine legendären „Young People‘s Concerts“ mit den New Yorker Philharmonikern waren von 1958 bis 1972 die beste Publikumsverzauberungsmaßnahme, die sich ein Orchester wünschen konnte. Bis zu 30 Millionen TV-Zuschauer erreichte Bernstein damit, als Anerkennung gab es nicht weniger als zehn Emmys. Die New Yorkerin Marin Alsop war neun, als sie nach einer dieser Shows ihren Eltern mitteilte: „Ich will Dirigentin werden!“; seit 2007 ist sie, als erste Frau in dieser Liga, Chefin des Baltimore Symphony.

Bernstein und die Politik: ein faszinierend schillerndes, weites, immer wieder vermintes Feld. Schon als Student war er linker als liberal, 1949 kam er als vermeintlicher Kommunist auf eine schwarze Liste. Das FBI schnüffelte ihm über ein Jahrzehnt lang hinterher. Seine Operette „Candide“ über Voltaires „beste aller möglichen Welten“ war nicht zuletzt auch ein ironischer Seitenhieb auf die Kleingeister der McCarthy-Ära. Ab den späten 60ern empfand er sich als der Soundtrack-Lieferant für die Kennedy-Ära. Legendär wurde die High-Society-Party des Black-Panther-Sympathisanten Bernstein, über die Tom Wolfe als Cocktailgast 1970 einen wenig schmeichelhaften Artikel unter der Überschrift „Radical Chic“ schrieb.

Als Dirigent inszenierte Bernstein nicht nur die Musik, sondern gern auch sich selbst. Während frühere Maestro-Generationen zum Gestenminimalismus neigten, tänzelte, wirbelte und hüpfte Bernstein gern vor, was er vom Orchester haben wollte. In einem anderen Teil der Musikwelt spaltete die Frage „Beatles oder Stones?“, in der Klassik gab es in Bernsteins Blüte-Jahrzehnten nur einen, der in so ziemlich jeder Hinsicht dessen Gegenteil und Antipode war: Herbert von Karajan. Zwei Beethoven-Bewunderer, Brahms-Versteher und Mahler-Durchleuchter, und dennoch: ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Am 14. Oktober 1990 starb der musikalische Weltbürger Bernstein in New York. Er wurde in Brooklyn neben seiner Frau begraben. Über seinem Herzen liegt eine Partitur von Mahlers Fünfter Sinfonie.