Lüneburg. Langsam schreitet Nils Petter Molvær aus der Dunkelheit des Altarraums bis vor die erste Bankreihe. Zart und unverstärkt kommen die ersten Töne aus seiner Trompete. Er lässt sie verklingen und durch das hohe Kirchenschiff von St. Michaelis schweben. Seine Improvisation über das frühmittelalterliche „Predicasti“ aus den „Olavsmusikken“ wird nach diesem fragilen Auftakt klarer und schneidender.
In der ausverkauften Kirche in Lüneburg ist es mucksmäuschenstill. Niemand wagt sich zu räuspern oder sogar zu husten. Die Besucher sitzen auf den harten Kirchenbänken und hängen förmlich an den Lippen des norwegischen Jazz-Trompeters. Nach ein paar Minuten dieses ruhigen Intros kommen die sechs Sänger und Sängerinnen der Nordic Voices nach vorn und flankieren den Trompeter. Ein meditatives Miteinander zwischen Stimmen und Instrument beginnt.
Acht Kompositionen stehen auf dem Programm dieses Konzerts im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF), das wieder mal die Landesgrenzen überschreitet und in der Hansestadt im Nordosten Niedersachsens gastiert. Molvær und das Vokal-Ensemble singen und musizieren ohne Pause zwischen den liturgischen Liedern, Madrigalen und den instrumentalen Stücken. Das gibt den Zuhörern Gelegenheit zum Sichhineinversenken und zur Konzentration auf die Reinheit der Musik, ohne dass Zwischenapplaus diesen Hörgenuss stören würde. Alles in diesem Konzert ist Andacht.
Die „Olavsmusikken“, rituale Musik zu Ehren des im Jahr 1030 gestorbenen Heiligen Olaf Haraldsson, gehen nahtlos über in Arvo Pärts „Magnificat“, das der estnische Komponist 1989 geschrieben hat. Die Nordic Voices knüpfen daraus einen vielstimmigen Klangteppich, zum Teil durch sechsstimmigen Gesang. Wie auch später bei Francis Poulencs „O magnum mysterium“ hat Pärt dazu einen lateinischen Text aus dem Lukas-Evangelium benutzt. Immer wieder gesellt sich Nils Petter Molvær zu den sechs Vokalisten. Seine Komposition „Song Of Grief“ klingt wie ein nordischer Blues, unter den die Nordic Voices einen gesummten Klangteppich legen. Dass Molvær einer der innovativsten Musiker im Bereich des Ambient Jazz ist, zeigt sich bei Asbjørn Schaathuns Stück „Verklärung“, basierend auf einem Gedicht von Georg Trakl. Molværs Trompete zerschneidet den Raum, sein Spiel verlässt den reinen Klang und wird schräger, die Nordic Voices schichten darunter dissonante Lagen. Das Stück wird Ausdruck der Todesvisionen des Dichters, der sich 1914 das Leben nahm.
Höhepunkt des Abends ist das abschließende „Still in Silence“ von Björn Bolstad Skjelbred. Die Sänger verteilen sich im Kirchenraum und singen Soloparts im Wechsel mit Molværs Trompete. Das Stück ist Teil von „The Bee Madrigal“. Skjelbred hat sich in dem sechsteiligen Werk mit dem immer häufiger auftretenden Bienensterben beschäftigt und versucht, dieser ökologischen Katastrophe einen musikalischen Ausdruck zu geben.
„Still In Silence“ ist mit seinem gehauchten Ende der abschließende Ruhepol eines Konzertabends, der nachwirkt. Es dauert einige Zeit, bis der Beifall aufbrandet, und noch viel länger, bis man aus dieser Hineinversenkung wieder in der Wirklichkeit angekommen ist.
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