Hamburg. Mit Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“, vor 220 Jahren zu Papier gebracht, braucht man in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis niemandem zu kommen. Hier, auf den Tischen in der Gefängniskirche, werden die Bastelscheren natürlich abgezählt, damit keiner bei der Rückgabe zu tricksen versucht. Die Getränke und der Keksteller parken auf einem Metall-Küchenwagen, der trostloser kaum sein könnte in seiner stumpfpolierten Gefängnishaftigkeit.
Doch ein kleiner, großer Schiller-Satz passt zu diesen Männern, die beim Blättern in Zeitschriften nach Bildern suchen, die mehr bedeuten könnten als ihre jeweiligen Motive. Sie blättern, als wären die Fotos eine mächtig knallende Droge und jede Seite eine neuer Probier-Gutschein und sie schon ewig auf Entzug. „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, geht dieser Satz. Das liest sich schön, das sagt sich leicht, wenn man nicht 23 Stunden am Tag weggeschlossen ist und fremdbestimmt. Wenn man einfach so gehen kann, herausspazieren und irgendwo einen Kaffee trinken oder auch nicht.
Untersuchungshaft ist auch Gefängnis. Die Türen fallen genauso endgültig zu. Der Schlüssel für den Fahrstuhl rumpelt genauso im Schloss. Weg vom Rest der Welt wirkt die Idee, sich mit Kunst zu beschäftigen, auf den ersten Blick ziemlich seltsam. Auf den zweiten auch. Aber trotz der tristen Knastflure, die nun mal wie Knastflure aussehen, gibt es in der U-Haft kulturelle Angebote, die das betäubende Grübeln über den nächsten Gerichtstermin verdrängen sollen. Hin und wieder Konzertchen, meistens mit Klassik, die niemanden überfordern soll, der Gefängnischor probt so regelmäßig, wie es mit wechselnden Mitgliedern geht. Jede Abwechslung zählt, erzählt die Pastorin Gunhild Warning.
Anfang Juni allerdings war Jan Delay für einige Songs im Knast zu Gast. Fast so wie Johnny Cash 1969 in San Quentin könnte das gewesen sein und war ja vielleicht auch so gedacht. Soll ein guter Delay-Auftritt gewesen sein. Es gab aber anschließend Ärger, weil der NDR beim Dreh dieses Konzerts auch einen Schlüssel gefilmt hatte. 600 Schlüssel durften danach, der Sicherheitsvorschriften wegen, ausgetauscht werden. Doch nun, nach viel organisatorischer Vorarbeit, kam ein bildender Künstler hinter Gitter, um an drei Nachmittagen einen Collagen-Workshop zu leiten. Und das Motto von Stefan Tümpels Kurs ist so hintersinnig lustig, dass es schon wieder ernst ist: „Sitzen“.
Ein halbes Dutzend Männer hat sich in der hellen, hohen Kirche versammelt – als kleine, zufällige Schicksalsgemeinschaft. Die Bandbreite der Charaktere reicht vom distinguierten Einzelgänger mit feinem Brillengestell, der sich konzentriert ans Einfärben der Papierränder macht, über unauffälligen Fußgängerzonenspazierer-Durchschnitt bis zum extrem lässig und charmant auftretenden Klarmacher, der beim Anblick des Fotografen grinsend meint: „Kein Problem! Meine Leute lesen keine Zeitung ...“
Aufgeregt sind alle am Anfang, ungewohnt ist es für jeden. Der Umgang mit Kunst, und sei er auch noch so rührend, unbeholfen, anfängerhaft, hat etwas enorm Persönliches. Erst recht in diesem Umfeld, in dem Zelleninhalte zu abzuarbeitenden Aktenvorgängen werden können.
„Herr Künstler, ist das eine Metapher für das, was man hier im Knast vermisst?“, fragt einer beim genießerischen Betrachten eines textilarmen Fotomodels. Der ältere Herr neben ihm schneidet ein anderes Motiv aus, mit der Zunge als Konzentrationshilfe zwischen den Lippen. Das anfängliche Gealbere gibt sich schnell. Der kreative Eifer ruft zur inneren Ordnung.
Tümpel hatte sich und seine Arbeiten einige Tage vor dem ersten Workshop-Nachmittag mit einer Ausstellung in der Kirche vorgestellt. Dass er hier ist, ergab sich durch die Bekanntschaft mit der Anstaltsleiterin Claudia Dreyer. Jetzt sieht er den Collage-Neulingen dezent anweisend über die Schultern. „Es muss überhaupt nicht schön sein, sondern rätselhaft“, sagt er. Wie auch immer das gemeint ist oder verstanden wird, es hilft.
Fremder als hier kann man sich als Gast von außen kaum fühlen
Situationskomik zum Überspielen der sonderbaren Lage, wildfremden Männern beim verträumten Zerschneiden von Zeitschriftenseiten zuzusehen, ist immer dabei. Großes Höhö bei den Schnipslern in der Runde, als Tümpel auf dem Illustrierten-Stapel einen „Stern“ findet mit der Titelzeile „Sitzen: Die unterschätzte Gefahr“.
Als Gast von buchstäblich außen fühlt man sich in dieser Situation ohnehin noch fremdelnder an als in einem normalen Atelier, in dem klar ist, dass ein Entstehungsprozess noch läuft. Doch hier, neben den Pappkartons für das Collagen-Rohmaterial, scheint das kein Problem zu sein. Kunst ist für jeden am Tisch die kleine eigene Fläche Freiraum, die ihm niemand nehmen kann – und wenn sie nur die Größe eines Zeichenblatts hat. Der Hunger nach Abwechslung zum Alltag aus Warten, Zuwarten und Weiterwarten ist enorm.
„23 Stunden in der Zelle? Da nimmt man, was man kriegen kann“, sagt einer, der sich bei seiner Motivsichtung sehr viel Zeit nimmt. Die Kurs-Kollegen füllen ihre Motiv-Kisten wie bei einem Wettlauf gegen die Zeit, er aber lässt sich von der Uhr nicht hetzen. „Ich bin kein Sieger, ich bin ein Verlierer“, kommentiert er einen Witz vom Nebenmann, und die Frage, wie das gemeint ist, bleibt lieber ungefragt. Untersuchungshaft ist auch ein Rollenspiel, mit Rollen, aus denen man tunlichst nicht fallen sollte, um sich keine Blöße vor den anderen Knastis zu geben. Ein anderer meint betont entspannt, damit klar ist, wo oben ist und wer unten: „Ich hab viel Zeit, ich bin selbstständig.“ Der Brillenträger also färbt ein, still, genügsam, geduldig. Abwartend. Genießend vielleicht sogar.
„Bis ich wieder draußen bin, ist mein Sohn groß“, sagt einer
Sein Tischnachbar klebt Papierstreifen zu Gittern. Der Herr aus dem Ausland, der sich fragt, warum er nicht in Freiheit ist, kombiniert seine Collagen-Einzelteile kreuz und quer übers Blatt. Ein anderer hat ein Frauengesicht in Herzform gebracht und darüber den Spruch „Escapate conmigo“ geklebt. „Flieh mit mir“ heiße das, erklärt er. „Bis ich wieder draußen bin, ist mein Sohn groß.“ Die harte Nummer also. Sein Nachbar schneidet und klebt nicht, er betrachtet das Foto eines Zauns an der syrisch-türkischen Grenze im „Stern“. „Man kann auch mit wenigen Bildern viel sagen.“
Bald darauf endet die erste Lektion Tümpels. In der nächsten will er mit Sprechblasen arbeiten, in der letzten mit dem Schlüsselwort „Übermorgen“. Schnell noch einen Keks auf die Hand für den Weg zurück in die Zelle, schnell noch Zusammenräumen. Gleich ist wieder Einschluss. Weitersitzen. Stefan Tümpel kann gehen, einfach so.
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