Tanz

Festival auf Kampnagel: Ein ganz starker Jahrgang

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Annette Stiekele

Das Festival Tanzplattform Deutschland bringt die Stars der Szene mit ihren aktuellen Arbeiten nach Hamburg. Dabei sind die Forsythe Company, die Kompanie Damaged Goods und der Hamburger Sebastian Matthias.

Kampnagel Kampnagel gilt europaweit als einer der wichtigsten Orte für zeitgenössischen Tanz. Da ist es nur folgerichtig, dass die Hallen zum Austragungsort der großen jährlichen Bestenschau werden. Wie bereits im Jahr 2000 ist Hamburg vom 26. Februar bis zum 2. März Gastgeber der Tanzplattform Deutschland; dass auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters anreist, verdeutlicht den Stellenwert dieses Festivals.

An einem langen Wochenende sind zwölf herausragende Tanzproduktionen von Top-Choreografen der vergangenen zwei Jahre zu erleben. Kenntnisreich ausgewählt von einer Fachjury, die den Schwerpunkt bewusst auf etablierte Künstler der Avantgarde legt. Die Gastspiele sind in ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Diskussionen, Workshops und einem Nachwuchswettbewerb eingebettet.

Zur Eröffnung gibt es gleich einen prominenten Aufschlag. Star-Choreograf William Forsythe und The Forsythe Company präsentieren ihre vielerorts gefeierte Produktion „Sider“ (26./27.2., jew. 20 Uhr), der Titel entstammt einem englischen Wortspiel, das so viel heißt wie „Jedes Ding hat zwei Seiten“. Tänzer in Tarnkleidung kreieren mit Pappwänden und Gummisohlen ein Geräuschkonzert, das mit einem komplexen Bewegungsvokabular die historischen Sprachmuster etwa eines William Shakespeare kreieren soll.

Hochkarätig geht es weiter mit Meg Stuart und ihrer Kompanie Damaged Goods. In „Built To Last“ (27./28.2., jew. 20 Uhr) übersetzt die in Berlin lebende US-amerikanische Choreografin monumentale Werke der Klassik und des Jazz von Rachmaninow bis Meredith Monk in Bewegung. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer lassen die Musik durch ihre Körper strömen und gewinnen daraus komische und anrührende Momente. Ebenfalls mit historischem Material arbeiten die Berlinerin Isabelle Schad und der Franzose Laurent Goldring. Bei ihnen gerät Kafkas Erzählfragment „Der Bau“ (27.2., 21.30 Uhr, 28.2., 15 u. 18 Uhr) zur mit Stoffbahnen aufwendig hergerichteten Tanzskulptur. Der Bau wird zur Metapher für den Körper.

Literatur in Bewegung übersetzt ebenfalls der ehemalige Forsythe-Tänzer Richard Siegal, mit seiner aktuellen Produktion „Black Swan“ (27.2., 19 u. 21.30 Uhr), einem technisch aufwendigen Solo, in dem er selbst ganz in Schwarz auf schwarzer Bühne mit Vocoder-verfremdeter Stimme allerlei düstere Gedichte zitiert.

Eher dem Konzepttanz bzw. den als „Anti-Tanz“ verunglimpften alltäglichen Bewegungen wie Gehen, Stehen, Liegen ist der ehemalige Theaterregisseur Laurent Chétouane verpflichtet. Der in Berlin ansässige Franzose dürfte erneut polarisieren, wenn er, vom Philosophen Jean-Luc Nancy inspiriert, seine Tänzer „15 Variationen über das Offene“ (28.2., 20 Uhr, 1.3., 17.30 Uhr) aufführen lässt. Das Nachdenken über den künstlerischen Produktionsort an sich ist Anliegen der Frankfurter Swoosh Lieu. In „The Factory. Eine Besetzungsprobe“ (28.2., 18 u. 22 Uhr, 1.3., 18.30 Uhr) wird Kampnagel exemplarisch von einer Choreografie aus Maschinen, Objekten und allerlei Technik besetzt. Mit auf den ersten Blick kuriosen Gerätschaften arbeitet auch die israelische Choreografin Zufit Simon in „I Like To Move It“ (1.3., 19 Uhr, 2.3., 11 Uhr), einem Konzert für drei Tänzerinnen und acht Lautsprecher. Die Zuschauer können sich darauf einstellen, die Basslinie an diesem zwischen Tanzperformance und Rockkonzert changierenden Abend körperlich zu spüren.

Die Prägung durch die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit der großen, 2009 gestorbenen Choreografin Pina Bausch ist bei ihrem langjährigen Dramaturgen Raimund Hoghe unübersehbar. Der 64-Jährige, 1,54 Meter große und an einer Rückenverkrümmung leidende Hoghe hat sich auf zutiefst menschliche Arbeiten spezialisiert, in denen er sich stets mit der Harmonie des Körpers befasst. In „Cantatas“ (1.3., 20 Uhr, 2.3., 19 Uhr) begegnen sich die acht Darsteller zu Gesängen und Klängen, von John Cages „10 Geboten“ über Händels „Rinaldo“ bis Gene Kellys „Singin’ In The Rain“ in sehnsuchtsvollen Momenten. Die Opernsängerin Kerstin Pohle steuert dazu wundervolle barocke Arien bei.

Seit Langem einen durchaus streitbaren Fixpunkt in der zeitgenössischen Tanzwelt bilden VA Wölfl und seine Düsseldorfer Kompanie Neuer Tanz. In „Chor(e)ographie/Journalismus: kurze Stücke“ (1.3., 20 Uhr) führen Menschen mit Cowboyhüten, in Glitzerdress und Stöckelschuhen zu Melodien von Pop bis Zwölfton-Avantgarde Bewegungen aus, in denen das Militärische zum Leitmotiv wird. Der studierte Maler und Fotograf Wölfl nähert sich wie viele zeitgenössische Choreografen vom Standpunkt der bildenden Kunst aus.

Ähnlich arbeitet Tino Seghal. Der deutsch-britische Künstler mit Wohnsitz in Berlin zeigte seine Aufführungen auf der Documenta (13) ebenso wie in der Londoner Tate Modern. Sein Werk „(Ohne Titel) (2000)“ (2.3., 16, 17, 18 Uhr) lässt er in einer neuen Version von drei Tänzern aufführen: dem mit digitalen Sounds und Videoprojektionen arbeitenden britischen Choreografen und Tänzer Andrew Hardwidge, dem gebürtigen Kalifornier und Seghal-Vertrauten Frank Willens und dem französischen Choreografen Boris Charmatz. Jeder ein Star seiner Zunft.

Wer Antonia Baehrs ziemlich untänzerisches, aber ungeheuer originelles „Abecedarium Bestiarium. Affinitäten in Tiermetaphern“ (1.3., 21 Uhr, 2.3., 12.30 Uhr) beim Live-Art-Festival auf Kampnagel versäumt hat, sollte dieses Erlebnis unbedingt nachholen. Besucher können sich auf einen starken Jahrgang freuen. Im Reigen der Besten ist auch Hamburg mit Sebastian Matthias’ „Danserye“ (27.2., 19 Uhr, 28.2., 16 u. 19 Uhr), einer Aneignung von Gesellschaftstänzen der Renaissance, würdig vertreten.

„Tanzplattform Deutschland“ 26.2. bis 2.3., Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestr. 20–24, Karten 12,- bis 32,- : T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de