Star-Dirigent

Der große Bescheidene: Claudio Abbado ist tot

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Joachim Mischke

Im Alter von 80 Jahren ist Abbado, langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, in Bologna gestorben. Mit seinem Tod geht eine Epoche zu Ende. Was bleibt? Was war? Was wird man so nie wieder hören?

Hamburg. Einige der ersten Fragen, die man sich stellt, wenn so eine epochenbeendende Nachricht kommt, mit der man insgeheim schon länger gerechnet hat: Was bleibt? Was war? Was wird man so nie wieder hören?

Claudio Abbado ist tot, gestorben in Bologna, sein von schweren Krankheiten geschwächter, 80 Jahre alter Körper konnte nicht noch länger gegen das Schicksal kämpfen, und die Antworten fallen schwer. Denn der hagere, wortkarge, spröde Mailänder war niemand, der mit seiner Leidenschaft leibhaftig und offensiv hausieren ging. Er ließ oft lieber die Weltsprache Musik das Reden übernehmen. Durch ihn, mit ihm war sie mit erhellender Klarheit überzeugend genug.

Das große, aber nur selten verwendete Wort der „Bekenntnismusik“ ist beim Charismatiker Abbado zum universellen Anspruch gereift. „Musik hat für mich nichts mit Arbeit zu tun. Sie ist eine große, tiefe Leidenschaft“, sagte er noch vor einigen Monaten bei einer seiner sehr seltenen Interview-Audienzen.

Was Abbado in den letzten Jahren als moralphilosophische Instanz dirigierte, war ihm lebenswichtig. Überlebenswichtig. Einen einzigen Lieblingskomponisten hatte Abbado nicht, warum auch, er hatte ja einen Lieblingsplatz: vor einem Orchester, das ihn verstand. Bei Freunden.

Es gab auch nicht nur den einen Maestro Abbado, der seine Rolle jahrzehntelang ausfüllte und vor den Augen der Musikwelt spielte. Es gab in seiner Jugend den Klaviervirtuosen; das Kind einer gutbürgerlichen Mailänder Musikerfamilie; den Kompositionsstudenten, der gesellschaftskritische Politik als Fortsetzung von Musik mit anderen Mitteln sah. Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem gleichgesinnten Komponisten Luigi Nono, dessen Musiktheater-Solitär „Al gran sole“ er ebenso als erster Wegweiser ins Rampenlicht stellte wie den noch radikaleren „Prometeo“. Dritter in diesem Bunde war der Pianist Maurizio Pollini, gemeinsam propagierten sie im Italien jener Jahre eine Revolution des Hörens.

Karriere im Etablierten machte dieser Abbado parallel dazu rasant. Die ersten großen Chefposten, große Opern-Erfolge, Plattenengagements, was man so tut und nicht lässt, wenn einen der internationale Klassik-Betrieb umarmt und zu vereinnahmen versucht. Er wurde Ende der 1960er Chef am Opernhaus seiner Heimatstadt und bürstete die Scala und sein Orchester wieder zu Weltklasse auf. Die Sympathie mit den Wiener Philharmonikern war schnell beiderseitig und vertiefte sich über die Jahre der Zusammenarbeit. Eine weitere feste Größe in Abbados Kalender der 1980er war das London Symphony Orchestra. Vor allem die Standardgrößen der deutschen Romantik beschäftigten ihn in jenen Jahren wieder und wieder, weil er sich nicht mit der angeblichen Endgültigkeit von Perspektiven zufriedengeben wollte.

In Wien setzte er 1988 dem Publikum das widerborstig gedachte interdisziplinäre „Wien Modern“-Festival vor die Ohren. Damit kam er nicht nur durch, sondern auch bestens an, weil dieses Engagement fürs Unbequeme keine Oberflächenpolitur war. Abbado prägte das Programmprofil der Salzburger Festspiele und wurde beim Lucerne Festival zur unverzichtbaren Größe, weil er dort ein All-Star-Orchester zusammenstellte, das ihm jeden Wunsch von der Taktstockspitze ablas.

Das letzte Mal, dass sich Abbado einem Orchester fest angestellt verpflichtet fühlte, liegt etliche Jahre zurück: Die Berliner Philharmoniker beriefen ihn als Nachfolger Herbert von Karajans; größere und einschüchterndere Fußstapfen waren damals kaum denkbar. 1989 wurde er gewählt, nachdem er es nur drei Jahre an der Spitze der Wiener Staatsoper ausgehalten hatte, 2002 ging er. Die undankbare Aufgabe, die Verkrustungen dieser Institution wegzuklopfen, hatte ihn mürbe gemacht und nicht nur noch empfindsamer, sondern auch empfindlich. Doch ohne Abbados Vorarbeit, ohne die Blessuren und Beziehungskrisen jener Jahre hätte Abbados Nachfolger Sir Simon Rattle kein so leichtes Spiel bei der weiteren Neupositionierung und Verjüngung des Orchesters gehabt.

Nach der Trennung kamen die zweiten Flitterwochen. Abbados jährlich zelebrierten Wiederbegegnungen wurden zu sehnlichst erwarteten Liebeserklärungen, weil der überstandene Magenkrebs, der ihn 2000 fast umgebracht hatte, ihm eine Aura des fast schon ins Jenseits Entrückten verlieh. Einer wie er wusste jetzt, was auf dem Spiel stand, wenn es um letzte Dinge ging. Schicksalschläge musste er sich nicht mehr als Wegmarken zum Applaus in die Partitur notieren.

Seine größte Freude, seine wohl größte Stärke war der Umgang mit jungen Talenten, ihnen war er strenger väterlicher Freund. Von ihm in die Spur gestellte Ensembles wie das Chamber Orchestra of Europe oder das heutige Mahler Chamber Orchestra wurden Eliteschulen für die Besten von morgen. Je älter er wurde, desto kompromissloser wurde er: 2009 forderte er für seine Rückkehr an die Scala vom Mailänder Stadtrat, er solle 90.000 Bäume gegen den Smog pflanzen.

Anfang Juni hätte Abbado mit seinem Orchestra Mozart Bologna nach Hamburg kommen sollen, um ein Glanzlicht auf den Spielplan des ersten Musikfests zu werfen. Doch Abbado hatte schon vor einigen Monaten alle Konzertverpflichtungen absagen müssen. Ohne ihn hatte dieses Ensemble keine Zukunft mehr, das Aus kam vor einigen Wochen, ein Omen für Schlimmeres und Endgültigeres.

„Der Begriff ,großer Dirigent‘ hat keine Bedeutung für mich“, sagte Abbado einmal, „groß ist der Komponist.“