Hamburg. Über Joachim Lottmann kursieren zwei Äußerungen jüngeren Datums. Die eine stammt von Sibylle Berg: "Joachim Lottmann ist einer der am meisten unterschätzten Schriftsteller Deutschlands, beneidet ob seines grandiosen schriftstellerischen Talents." Die andere stammt von Lottmann selbst, er bezieht sich auf seinen neuen Roman: "Dieser Roman ist nicht lustig. Psychische Probleme sind nicht lustig. Lassen Sie sich durch die pseudowitzige Aufmachung des Buches nicht täuschen (nichts für Angsthasen!)"- okay, so weit verstanden.
Und zwar beides. Das Lob der Schriftstellerkollegin, sie sprach es aus angesichts der Verleihung des Wolfgang-Koeppen-Preises. Lottmann ist ein Außenseiter des Literaturbetriebs, in dem andere mehr Bücher verkaufen und wieder andere die Preise und die Stipendien abräumen. Lottmann wird nicht oft gelobt. Er ist ein maßloser Ironiker, ganz gefangen im Spiegelkabinett des Uneigentlichen. Der grundsätzliche Unernst, mit dem er die Berliner Republik betrachtet (zuletzt in dem Band "Auf der Borderline nachts um halb eins"), macht ihn für die Mächtigen verdächtig. Vielleicht hat sich Lottmann, der sich als "Großvater der Popliteratur" bezeichnet, zu sehr zu einer Art Harald Schmidt der Literatur gemacht und ist darüber zum Clown geworden.
Wo wir bei dem zweiten, dem Selbstzitat wären: Vielleicht ist Lottmann ja tatsächlich der zwanghafte, viel zu erfolglose Schriftsteller, den er in seinem neuen Roman "Unter Ärzten" zu Wort kommen lässt. Vielleicht ist "Onkel Jolo" oder Johannes Lohmer, wie das Alter Ego Lottmanns heißt, eine getreulich aufs Papier übertragene Version des echten Lottmann. Vielleicht gehen auch Autoren, die zu den besten Satirikern des Landes zählen, mal zum Nervenarzt. Lottmann dürfte, Achtung: Klischee, Bücher aus selbsttherapeutischen Zwecken schreiben. Aber das macht ja irgendwie jeder Dichter. Lottmann legt dieser Tage gleich zwei neue Bücher vor: "Hundert Tage Alkohol. Kein Roman" und das bereits genannte "Unter Ärzte". Letzteres erscheint bei Lottmanns Stammverlag Kiepenheuer & Witsch. Dort konnte man sich vor jetzt auch schon sieben Jahren mal über einen kleinen Buchhit aus Lottmanns Feder freuen "Die Jugend von heute" verkaufte sich ganz ordentlich.
Lottmann ist nach einem Jahrzehnt in Berlin kürzlich nach Wien umgezogen. Dort spielt auch "Hundert Tage Alkohol", der stärkere der beiden neuen Lottmann-Lesestoffe. Der Gegenwartsfanatiker und Zwangsironiker verarbeitet dort neueste Zeitgeschichte: Wie Dominique Strauss-Kahn (wie Julian Assange ein Thema des dampfplaudernden Erzählers) wird der Protagonist des 160 Seiten langen Satirestückchens wegen eines sexuellen Vergehens angezeigt. Er flieht nach Wien (über Zürich) und beißt sich in der dortigen Kaffeehaus-Literaten-Szene fest. Lottmann schleimt sich, wie stets, in die Kreise der maßgeblichen Leute ein. Die treffen sich im Café Anzengruber und heißen beispielsweise Eli Angerer.
Die muss man nicht kennen (als Piefke-Ignorant). Wiedererkennen muss man allerdings den Lottmann-Stil: Der mischt die Mittel der Übertreibung, des Belobigens, der Koketterie und der Ironie. Dabei zeigt sich Lottmann stets beflissen in der Kultur- und Literaturgeschichte. Andererseits nimmt er es mit den Fakten nie genau.
Ob er damit die oft auftretende Wurschtigkeit von Journalisten aufs Korn nehmen will? Lottmann stellt eine gut abgehangene Gegenwartsdiagnose, wenn er von der allgemeinen Pornografisierung des Alltags ("mein gutes, altes Pornothema") spricht. Lottmann bedient sich ihrer: indem er sie karikiert. Wahrscheinlich zielt er mit seinem Porno-Vorwurf auf die vor allem insbesondere unter männlichen Literaten, die keine Bestsellerautoren sind, geradezu verhasste Charlotte Roche.
Da spricht das Roman-Ich auch schon mal vom Frauen-Faschismus, meint aber vor allem aber den "Porn-Style" unserer Zeit; nach Lottmann durchdringt er unser gesamtes Zusammenleben und manifestiert sich in der Facebook-Nabelschau. Die Menschen heute, sagt der Held in "Hundert Tage Alkohol" und ist dabei ein irgendwie ziemlich machtloser Spiegelfechter und Moralist, der nur dauerironisch über die Übel unserer Zeit schreiben kann, die Menschen heute also sind sexuell verrohte Wesen, die die echte Liebe nicht mehr kennen.
Vielleicht sind sie reif für den Psychologen? In "Unter Ärzte", dem anderen neuen Roman, besucht ein mental ziemlich derangiertes Erzähler-Ich diverse Seelenklempner in Hamburg und Berlin. Es ist eine Art Sucht nach ärztlicher Aufsicht, die den Leidensmann in die Praxen von Quacksalbern treibt. Ein Arzt erinnert den Erzähler wegen seiner manischen Stimme an Klaus Kinski; dieser wohnt und heilt allerdings im komplett unmanischen Eppendorf. Später verschlägt es den Jammerlappen in einen Ashram. Allerdings interessieren ihn eher indische Frauen als Gurus. Das andere Geschlecht ist der Ursprung aller Malaisen, früh notiert der Erzähler in seine umfängliche Krankenakte: "Der schlimmste Zusammenbruch war erfolgt, als sich meine Freundin Daphne einmal ausnahmsweise meinen Interessen angeschlossen hatte. Damit konnte ich nicht umgehen."
Lottmanns gibt der Realität stets einen kleinen Spin, und schon wird uns bewusst, wie absurd vieles ist - und sei es der Kampf der Geschlechter. Die Frau (und nicht Porno) ist das wahre Lebensthema des amüsanten Erzählers Lottmann. In "Unter Ärzten" wirkt es fad. Er hat zu oft darüber geschrieben.
Joachim Lottmann: Hundert Tage Alkohol. Kein Roman. Czernin. 160 Seiten, 19,80 Euro; Unter Ärzten. KiWi. 256 Seiten, 8,99 Euro
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