Der ungarische Holocaust-Überlebende György Dénes gibt Auskunft über sein Leben und die aktuelle politische Entwicklung Ungarns.

Budapest/Hamburg. Der Tonfall ist nachdenklich, György Dénes sucht nach Formulierungen, spricht Deutsch mit einem feinen ungarischen Akzent. Der Holocaust-Überlebende Prof. György Dénes wurde 1923 als Kind eines jüdischen Vaters in Südostungarn geboren, 1944 zunächst nach Bergen-Belsen und später Theresienstadt deportiert. Nach der Befreiung kehrte er nach Ungarn zurück und arbeitete als Geschichtsprofessor. Als Teilnehmer am Aufstand von 1956 war ihm seine Lehrtätigkeit lange Zeit verwehrt. "Wortmeldungen aus Ungarn" heißt nun eine Veranstaltung des Auschwitz-Komitees zum 67. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers, die an diesem Sonntag 13 Uhr im Polittbüro (Steindamm 45) stattfindet. Dort wird Dénes in einer Podiumsdiskussion sowohl über seine Haftzeit als auch über die aktuelle politische Entwicklung Ungarns Auskunft geben.

Hamburger Abendblatt: Herr Prof. Dénes, mit welchem Gefühl fahren Sie in diesen Tagen nach Deutschland?

Prof. György Dénes: Nach meiner KZ-Haft in Bergen-Belsen war ich selbstverständlich zunächst den Deutschen gegenüber nicht positiv gestimmt. Aber das hat sich längst geändert. Wir Ungarn mussten nach 1945 erleben, von einer Diktatur in die andere zu geraten. Daher konnte ich zunächst nicht nach Deutschland fahren. Ich bin später in die DDR gereist und habe Freundschaften mit Deutschen geschlossen, die bis heute bestehen. Und seit 1989 reise ich auch in die Bundesrepublik. Wenn Sie nach meinen Gefühlen fragen, kann ich sagen: Ich komme mit offenem Herzen und offener Seele.

Wann waren Sie zum ersten Mal wieder in Bergen-Belsen?

Dénes: Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989. Mit meinen Historikerkollegen, die an dieser und an anderen KZ-Gedenkstätten arbeiten, habe ich enge Kontakte. Am 15. April, dem Befreiungstag von Bergen-Belsen, bin ich jedes Jahr dort.

Empfinden Sie heute noch Bitterkeit, wenn Sie Bergen-Belsen besuchen?

Dénes: Es sind keinen schönen Erinnerungen, die sich mit diesem Ort verbinden. Trotzdem bin ich gern dort, denn ich kann als Zeitzeuge Menschen darüber berichten, die damals noch nicht gelebt haben. Die meisten Täter von damals leben heute nicht mehr, und die Enkelkinder denken heute ganz anders.

Wie beurteilen Sie die hiesige Entwicklung seit der Wiedervereinigung?

Dénes: Leider gibt es in allen Ländern eine Minderheit von Menschen, die Ressentiments schüren und Hass predigen, auch in Deutschland. Doch Gott sei Dank gibt es in Deutschland heute eine demokratische Gesellschaft. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Kürzlich war ich während einer Vortragsreise in Friedberg in Hessen Zeuge eines Aufmarsches von Rechtsextremisten. Das waren etwa 100 Personen, es gab aber eine Gegendemonstration, an der Tausende teilgenommen haben. Die große Mehrheit ist gegen den Faschismus, das zeigt sich besonders bei jungen Leuten.

Trotzdem hat eine nationalsozialistische Gruppe in Deutschland in den letzten Jahren mindestens zehn Morde an Ausländern begangen.

Dénes: Auch in Ungarn gibt es diesen Hass, der sich hier besonders gegen Zigeuner richtet. Rassismus ist in vielen Ländern ein Problem, deshalb muss man wachsam sein und sich gegen jene wenden, die solchen Hass predigen. Hoffentlich bleibt es eine Minderheit.

Haben Sie nach 1945 noch Deutsch gesprochen?

Dénes: Meine Mutter war evangelisch und sprach fließend Deutsch. Ich hatte auch eine österreichische Kinderfrau, deshalb sprach ich als Kind sehr gut Deutsch. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ich kaum Gelegenheit, deutsche Literatur und deutsche Zeitungen zu lesen. Aber auch nach meiner KZ-Haft hatte ich keine Vorbehalte gegen die Sprache von Goethe, Schiller und Heine. Heute brauche ich ein paar Tage, um mich wieder gut in Deutsch ausdrücken zu können.

Die Regierung Ihrer ungarischen Heimat ist dabei, ein autoritäres Regime zu installieren. Hätten Sie so etwas nach dem Fall des Kommunismus überhaupt für möglich gehalten?

Dénes: Nein, das hätte ich nicht. Ich finde aber gut, dass diese Tendenzen in Europa nicht unwidersprochen bleiben. Ich finde es auch gut, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban jetzt vor dem Europaparlament in Straßburg zugesagt hat, wesentliche Änderungen vorzunehmen. Nun erwarten wir, dass das tatsächlich geschehen wird. Orban selbst ist sicher kein Rechtsextremist, aber er ist an die Macht gekommen und will die Macht behalten. Deshalb muss man wachsam sein.

Hat sich das geistige und kulturelle Klima in Ungarn im letzten Jahr verändert?

Dénes: Ja, Orban hat seine Macht genutzt, aber inzwischen ändert sich die Stimmung wieder. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Da sich die wirtschaftliche Lage in der letzten Zeit rapide verschlechtert, ist auch die Popularität der Regierung stark gesunken.

Trügt der Eindruck, oder gab es in der ungarischen Gesellschaft auch nach 1945 einen recht starken unterschwelligen Antisemitismus?

Dénes: Das ist leider richtig. In der stalinistischen Zeit wurde darüber nicht gesprochen, weder über den Antisemitismus noch über den Antiziganismus, der in unserer Gesellschaft auch stark verbreitet ist. Jetzt sind die Meinungen frei, daher treten diese Dinge, die leider nicht überwunden sind, offen zutage.

Gibt es unter den Intellektuellen Ihres Landes eine Gegenbewegung, der es gelingen kann, die antidemokratische Entwicklung umzukehren?

Dénes: Eine organisierte Gegenbewegung unter den Intellektuellen gibt es nicht. Aber insgesamt hat der Widerstand gegen die Eingriffe in demokratische Strukturen in den letzten Monaten zugenommen. Vor einer Woche gab es eine große Demonstration in Budapest, an der Tausende teilnahmen. Orban und die Spitzen des Staates haben in der Oper die neue Verfassung gefeiert. Davor standen die Menschen und demonstrierten dagegen.