Hamburg. Mord, Inzest, Selbstverstümmelung, mit solchen Themen kommt man heute vielleicht in die Knallpresse oder in eine Nachmittags-Talkshow. Sophokles hat daraus 429 v. Chr. eines der wichtigsten Dramen der Menschheitsgeschichte gemacht, "Ödipus". Es zeigt die wohl größte Fallhöhe eines tragischen Untergangs. Ein königlicher Mensch wird an Leib und Seele vernichtet.
Nicht umsonst ist die Geschichte des Mannes, der nach göttlichem Willen und Weissagung seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten sollte, bis heute Stoff für Autoren und Psychoanalytiker. Nach Sigmund Freud ist Ödipus der erste moderne Mensch, verdammt zur Selbsterkenntnis, die er in gnadenlosem Ringen mit sich selbst zu Tage fördert. Erstmals wird sich ein Mensch seiner Schuld bewusst.
Regisseur Dimiter Gotscheff hat "Ödipus, Tyrann" nun auf die Bühne des Thalia-Theaters gebracht. In einer Übersetzung von Hölderlin, die Heiner Müller in den 60er-Jahren bearbeitete. Die Mahnung, dass kein Mensch seinem von Göttern vorherbestimmten Schicksal entfliehen kann, hatte Sophokles in seiner Tragödie formuliert. Dramatiker Müller betonte die Dumpfheit von Machthabern, die die Realität zugunsten von Wunschdenken ausblenden. Wie einen Krimi könnte man den Stoff auch erzählen, als Fahndung nach Wahrheit. Und das Erschrecken darüber, wenn man sie erkennt.
Gotscheff liefert eine sehr körperbetonte Inszenierung, einen wild ringenden Ödipus, eine tanzende Iokaste, einen vogelartig krächzenden Chor mit ausgreifenden Gesten der Verzweiflung. Mit imposanter Direktheit und knappen Mitteln hat nicht nur Sophokles seine ungeheure Thematik bewältigt, auch Regie und Bühne (Mark Lammert) beschränken sich auf Kargheit und die physische Ausdruckskraft der Darsteller, die - bis auf Ödipus - barfuß gehen, rennen, taumeln, zuweilen fast wie ein Tanztheater. Unterhaltung wird da kaum geboten. Man muss sich konzentrieren auf diese grausame Familiengeschichte.
Die Bühne ist kahl, nur eine große gelbe Keule schwingt von der Decke (das dräuende Schicksal?). Ödipus rollt bei seinem ersten Auftritt von ganz hinten nach vorne, windet sich wie ein Kleinkind, das krabbeln lernt, stößt dabei unklare Laute aus. Vorne sitzt Iokaste die ihn - "dutzi, dutzi" - wie ein Baby heranlockt, dann umarmt wie einen Mann. Iokaste ist zwar Ödipus' Frau, aber sie ist auch seine Mutter.
Das Erkennen dieser Wahrheit zeigt Bernd Grawerts Ödipus mit heißem, fordernden Hunger. Er tanzt, bellt, gurrt, zögert, tobt - ein zunehmend wütender Mann an der Grenze des Wahnsinns. Anfangs zeigt er sich selbstgerecht, gewitzt, dass er das Orakel, er würde zum Mörder seines Vaters werden, überwunden zu haben glaubt. Später wird er böse auf das Schicksal, das Tod, Verirrung, Schuld und Schande bringt. Am Ende wälzt er sich mit selbst durchstochenen Augen über die Bühne - wie das Baby zu Anfang. Der Kreislauf des Schicksals hat sich geschlossen.
Exzessive Körpersprache auch beim Chor - vier Männer und drei Frauen in weiten, schwarzen Anzügen. Mit ausgreifenden Armen rennen sie an den Bühnenrand, krähen wie Aasgeier von existenzieller Not. Als biegsame Masse schmiegen sie sich lauernd ins Eck. Immer beobachten, kommentieren sie, allen voran Chorführer Patrycia Ziolkowska, die klar und selbst verwirrt das Unausweichliche verkündet. Kreon ist bei Bibiana Beglau ein albtraumhafter Todesvogel mit weiten Schwingen. Einzig Iokaste bekommt bei der großartigen Karin Neuhäuser einen realistisch zupackenden Ton. Als liebende Frau, die selig tänzelt, als erschrockene Mutter, die, bei aller Schmach, ein kurzes Glück darüber zeigt, dass ihr tot geglaubter Sohn noch lebt.
Das Publikum spendete den durchweg guten Schauspielern viel Applaus. Und dennoch: Hier war zu viel Konzept zu sehen. Und zu wenig fürs Bauchgefühl.
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