Ivo Pogorelich beim Schleswig-Holstein Musik Festival

Endstation Sehnsucht

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Joachim Mischke

Ein erschütternder Sommerabend in Altenhof: Der kahlrasierte Pianist Ivo Pogorelich zerlegte die Musik, bis nur noch ihre Gelenke übrigblieben.

Hamburg. Das war kein Konzert, sondern eine Therapiesitzung, ein Monolog einer verlorenen Seele, die Antworten fordert und doch nur Ausreden findet. Kahlrasiert wie für eine Pilgerfahrt, mönchische Askese im Halbdunkel. Kein Virtuose im Rampenlicht, nur noch Silhouette. Der Frack als Relikt eines früheren Lebens fremdelt an ihm wie ein surrealistisches Kostüm. Dazu ein kalt glänzender Schädel, wie der späte, sehr jenseitige Marlon Brando in "Apocalypse Now". Das Grauen, das Grauen, raunt es im eigenen Hinterkopf.

Direkt unter dem Dach des Altendorfer Kuhhauses sitzt Ivo Pogorelich, in den 80er Jahren mit seiner exzentrisch inszenierten Künstlermähne und dem weißen Seidenschal für Klavier-Gourmets die schönste Versuchung seit Dorian Gray, und skelettiert unerbittlich zwei Chopin-Nocturnes. Seziert sie im Zeitlupentempo, bis er nur noch staunend und ratlos auf die freigelegten Gelenke dieser Musik, auf ihre Bestandteile und ihren unleserlich gewordenen Bauplan sehen kann.

Der mondän parfümierte Salon, für den der späte Chopin das alles komponiert haben mag, wird bei Pogorelich zur klammen Einzelzelle, in der es muffig riecht.

Direkt über dem Dach zwitschern Vögel, als wäre nichts. Zwei Welten gleiten verstörend aneinander vorbei. Was haben Zeitgenossen wohl gedacht, als sie zum ersten Mal die brutal realen Bilder von Caravaggio sahen, als sie das Tenorsaxophon des späten John Coltrane um spiritistische Erleuchtung und Vergebung kämpfen hörten?

Nachdem die letzten Töne von Chopins op. 55/2 wegknickten wie morsche Äste, schlägt Pogorelich jene Tasten an, die von Anfang an sonderbar scharf klangen, führt sie dem entgeistert herbeigeeilten Klavierstimmer vor. Dann geht er vor der ursprünglich geplanten 3. Chopin-Sonate von der Bühne, mit resignierter Starre in den Schultern.

Unruhe folgt, erst recht unter jenen gründlich verwirrten Zuhörern, die spüren, daß sie mit ihrem Unterhaltungsanspruch bei der falschen Veranstaltung sind.

Der letzte denkwürdige Klavierabend in dieser rustikalen Scheune war von Lang Lang, der sein Sommerfrische-Publikum mit circensischer Fröhlichkeit schwindelig gespielt hat. Pogorelich jedoch, geläutert und fürchterlich, zieht seinen Zuhörern den Boden wortlos unter den Füßen weg. Warum soll es ihnen besser gehen als ihm.

Festival-Intendant Rolf Beck vertröstet und bittet von der Bühne herab um Geduld. Der Steinway-Techniker tut sein Bestes, nach etwa einer halben Stunde Reparaturzeit soll es weitergehen. Aber kann es überhaupt so weitergehen?

Schon jeder normale Pianist hätte Mühe, den Faden dort wieder aufzunehmen. Theoretisch sollen drei Sonaten folgen, doch Pogorelich, der tatsächlich wiederkommt, macht im freien Fall drei Fantasien aus ihnen. Allerdings nicht gleich, denn bevor er weiterspielt, wirft er noch mit leiser, vorwurfsvoller, distanzierter Stimme ("ich habe hier die Pflicht, Kunst aufzuführen") einen Fotografen hinaus.

Chopins h-moll-Sonate wird als ernüchternder Selbstzweck entlarvt, in dem Läufe nur perlen, damit die Hände etwas zu tun haben. Tempovorgaben oder strukturelle Entwicklungen sind ihm dabei egal. Schaffen es hier und da tatsächlich Melodien bis an die Oberfläche, ist deren Dur verdüstert und trügerisch.

Das wild flackernde harmonische Irrlichtern in Skrjabins Fis-Dur-Sonate, der letzten, die namentlich noch in einer Tonart verankert wurde, dekonstruiert Pogorelich zur Suche nach Substanz. Rachmaninoffs 2. Sonate zerlegt er, kein erkennbares Ziel vor Augen, zu einem großen, kantigen Bruchstück, in dem die Pausen zwischen den Noten fast vielsagender wirken als die subtil variierten Klänge.

Am Ende seiner langen Reise in die Nacht schießt Pogorelich vom Klavierhocker hoch und schiebt ihn wie ein unnütz gewordenes Requisit mit einem Fuß unter das Überdruckventil Flügel.

"Ich komme. Ich spiele. Ich gehe." Sechs Worte von ihm, mit denen der 47jährige Eremit kürzlich sein Dasein beschrieb und seine Qualen unerwähnt ließ. Endstation Sehnsucht.

Weder der Applaus noch vereinzelte Buh-Rufe interessierten ihn noch an diesem tragischen, erschütternden Sommerabend in Altenhof. Wahrscheinlich erreichen sie ihn schon längst nicht mehr.