Serie: Künstler über ihre Arbeitsgeräte, Teil 1: Der Taktstock

Sein Taktstock - in Maßarbeit fürs Taktgefühl

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Joachim Mischke

Handwerkszeug oder Inspiration? Mittel zum Zweck oder Machtsymbol? NDR-Chefdirigent Christoph von Dohnányi schwört bei seinen Taktstöcken auf Unikate aus New York.

Hamburg. "Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür", trällerte Marianne Rosenberg. Das tut hier nichts zur Sache, passt aber trotzdem. "CvD" steht über der Klingel eines Hauses in der Nähe des Jenischparks. "CvD" steht auch auf dem Stückchen Holz, das ganz unspektakulär auf dem Gartentisch herumliegt, wie wartend auf die nächste Gelegenheit, seine Arbeit zu tun. Mehr als Mittel zum Zweck ist sein Taktstock nicht für dessen Besitzer. NDR-Chefdirigent Christoph von Dohnanyi ist da pragmatisch. Birke wahrscheinlich, da ist er sich nicht so sicher. Hinten etwas Kork, nicht zu viel. Fertig. Gut in der Hand liegen muss er, eine Verlängerung des Arms sein, "so leicht und so unspürbar wie möglich". "Der Trick bei Taktstöcken ist, dass sie total längs gemasert sein müssen." Eine Spur diagonal nur, schon taugen sie nichts mehr. Die geraden halten mindestens ein Jahr, eher länger. Dieser hier ist gut drei Jahre alt. Dass dies aber kein Taktstock von der Stange ist, sondern Maßarbeit, belegt die Gravur, Datum inklusive. Richard Horowitz hat ihn gemacht, früher Paukist an der New Yorker Met, inzwischen weit über 80, der seinen ersten Taktstock 1964 für Karl Böhm gedrechselt hat. Bernstein hat mit Horowitz' "sticks" gezaubert, Levine hortet sie als Erinnerungen an besondere Aufführungen.

Die Horowitz-Connection besteht schon seit den 80er-Jahren, die Empfehlung bekam Dohnanyi von einem Notenwart in Cleveland. Davor hat er sich mit nichts derart Speziellem durchgeschlagen, unter anderem auch mit ostdeutschen Taktstöcken. Ein Kauf aus Notwehr, weil die DDR-Gage ja irgendwie ausgegeben werden musste, da boten sich neben den legendär billigen Noten diese Modelle an. Taugten aber nicht viel. In zwei Jahren seien etwa 30 zu Bruch gegangen. Bei Horowitz weiß er, was er an ihm hat.

Dirigenten empfehlen ihn gern an Kollegen weiter, sein Kundenkreis ist klein, aber begeistert. Auch Dohnanyi ist Stammkunde. Ein gutes Dutzend Reserve-Taktstöcke steckt noch im Köcher beim Schreibtisch, demnächst müsse er wohl wieder mal welche bestellen. Besonders teuer sind sie nicht. 40, 45 Dollar, so in etwa. Kein Vergleich jedenfalls zu den Gagen, die jene bekommen, die dieses Stück Holz durch die Luft bewegen und sie damit in mal mehr, mal weniger exquisiten Klang verwandeln. "Ist das nun ein Handwerkszeug? Ich würde sagen, Handwerkszeug eines Dirigenten sind neben dem Orchester seine Ohren und seine Fantasie. Der Taktstock ist bestenfalls eine Taste unseres Instruments. Die Proben sind entscheidend. Und dann kommt die Persönlichkeit dazu."

Ein persönliches Verhältnis hat Dohnanyi, der nicht mehr weiß, wo sein Taktstock Nummer eins geblieben sein mag, deswegen auch nie zu diesem Stück Holz entwickelt. "Wenn er nicht gut ist, kann er nur stören. Das ist wie mit einem Organ. Wenn Sie's merken, dann ist was nicht in Ordnung." Die Hamburger Kollegin Simone Young meinte einmal, ohne Taktstock fühle sie sich nackt. "Nö", entgegnet Dohnanyi, das gehe ihm gar nicht so. Manchmal sei das sogar ganz angenehm, er probe oft ohne. Also: ohne Taktstock. Um bei Konzerten auf der sicheren Seite zu sein, deponiert er aber stets einen Ersatz-Stock in Griffweite, meistens bei den Bratschen.

Im Laufe der Jahrhunderte hat der Taktstock sich genau so drastisch verändert wie die Musik, die er hervorzubringen half. Der berühmteste Berufsunfall der Branche geht auf sein Konto. Jean-Baptiste Lully rammte sich 1687 am Hof von Versailles im Eifer des Dirigats die Metallspitze seines wuchtigen Taktklopfers in den Fuß und verschied qualvoll an den Folgen des Wundbrands. Ein körperlich nicht gerade überragender Toscanini kompensierte diese fehlenden Zentimeter mit einem extragroßen Stock und entsprechenden Gesten. Richard Strauss dirigierte so sparsam, als hätte man ihm jeden sichtbaren Einsatz von der Gage abgezogen. Das Furtwängler-Flattern war berüchtigt unverständlich, aber dennoch legendär erfolgreich. Sir Georg Solti, bei dem Dohnanyi in jungen Jahren assistiert hatte, war derart impulsiv, dass er sich während seiner Frankfurter Zeit einmal fast selbst ein Auge ausstach. Ein anderes Mal musste Jeffrey Tate, der schließlich Medizin studiert hatte, ambulant ran. Solti hatte sich den Taktstock in die Hand gerammt, die Spitze war abgebrochen. Tate hatte sich zwar auf Augenheilkunde spezialisiert, aber: egal. Arzt ist Arzt. Doch er bekam das Bruchstück nicht aus der Maestro-Hand und war deswegen in höchster Sorge, bis sich das widerspenstige Fragment nach einigen Tagen von selbst aus dem verwundeten Maestro verabschiedete. Als Valery Gergiev in Salzburg kurz vor seiner ersten Probe mit den Wiener Philharmonikern feststellte, dass er keinen Taktstock dabei hatte, griff er zu Stäbchen aus dem nächstbesten Chinarestaurant. Ging auch. Und außerdem: "Den Wienern ist's eh wurscht, ob einer einen Stock dabei hat oder nicht."

Manche Dirigenten-Kollegen wollen jedoch partout nichts mit dem Taktstock als Hierarchie-Krücke zu tun haben. Rene Jacobs lehnte ihn jahrelang als "faschistoide Erfindung" ab, Boulez verließ sich auf sein Fingerspitzengefühl als Komponist und meinte lakonisch, ein Taktstock habe nichts mit Autorität zu tun. Wenn das so einfach wäre, wäre auch das Dirigieren ganz einfach. Und das ist es ja bekanntlich nur so lange, bis jemand darauf achtet.

Bei aller Symbolik und trotz der vielen Indizienbeweise, das Wort Machtsymbol will Dohnanyi für sein Hilfsmittel nicht gelten lassen. "Dazu ist es zu klein. Es ist eine Erleichterung für das Orchester für die komplizierten Vorgänge." Dafür hat der Routinier ein besonders raffiniertes Pädagogik-Beispiel parat: "Man muss ihn in seiner Funktion aufs Notwendigste beschränken. Schon das Wort Schlag ist ja schon verdächtig. Die Sicherheit, die er herstellen kann, ist auch eine Gefahr für den Klang. Manchmal schlage ich bewusst nicht deutlich, um die Musiker dazu zu bringen, einander zuzuhören. Das ist auch für die Musiker befriedigender, weil sie merken, wir spielen auch mit den Ohren, nicht nur mit den Augen."

Das mit dem Handwerkszeug lässt Dohnanyi offenbar nicht los. Also zaubert er noch eine Überraschung aus der Hosentasche. Sieht fast aus wie eine Stoppuhr, ist aber keine. "Das, gepaart mit einem guten Ohr, ist echtes Handwerkszeug. Das Beste, was es gibt", erklärt er so stolz, als hätte er einen Universal-Dietrich vorzuweisen, mit dem jedes Interpretationsproblem im Handumdrehen zu knacken wäre. Vor etlichen Jahren hat ihm "das" jemand in Köln empfohlen. "Das" ist eine "Tempo Watch", fürs "kreative Tempo". Auf den Startknopf drücken, sich innerlich das Tempo vorstellen, dass man für richtig hält, und dann auf dem Ziffernblatt ablesen, wie weit man die Metronom-Vorgabe des Komponisten verfehlt hat. Bei mehreren Beispielen liegt Dohnanyi nur ganz knapp daneben oder gar nicht. Beeindruckend. Aber das soll es ja vielleicht auch sein. Solch eine Demonstration vor einem Orchester, um Maulen über vermeintlich falsche Tempi zu widerlegen, und schon hat man, gewissermaßen auf einen Schlag, 100 neue Freunde.

Dirigenten mit mangelndem Taktgefühl bezüglich des eigenen Könnens wird ja gern nachgesagt, dass sie ihre Parade-Gesten vor dem heimischen Spiegel einstudieren. Hat er etwa, sehr viel früher vielleicht ...? Hat er nicht. Ganz bestimmt nicht. Da wird Dohnanyi kategorisch, noch bevor die Frage vollständig draußen ist. "Das ist unvorstellbar für mich!" Und wo er schon bei Treueversprechen an sein unscheinbares hölzernes Arbeitsgerät auf dem Gartentisch ist, folgt wenig später ein weiteres: "Plastik kommt mir nicht in die Musik."