Hamburg. Große braune Augen, elegantes Understatement, die obligatorische Wasserflasche im Arm, so steht sie vor einem. Schmal ist sie, wirkt fast zerbrechlich. Doch dieser Eindruck täuscht. Gewaltig. Sobald sie sich bewegt, strahlt der Körper von Heather Jurgensen, seit 1994 Erste Solistin in John Neumeiers Hamburger Ballett-Compagnie, eine enorme Spannung aus, ein unangestrengtes Bewusstsein für das eigene Charisma. Nach der Vorstellung ist vor der Vorstellung. Und das Gespräch mit der Amerikanerin steckt voller Überraschungen.
ABENDBLATT: Tanzen Sie, weil Sie geliebt werden wollen?
HEATHER JURGENSEN: Nein, überhaupt nicht.
ABENDBLATT: Tanzen Sie für sich oder für andere?
JURGENSEN: Ich tanze für mich.
ABENDBLATT: Und alle anderen können froh sein, dass sie dabei sein dürfen?
JURGENSEN: So nicht. Ich denke dabei nicht, dass ich jemandem etwas Gutes tue, sondern weil es mir Spaß macht. Hoffentlich ist das auch zu sehen. Man ist mit sich allein. Es kommt von innen.
ABENDBLATT: Ist man mit den großen Partien nicht fürchterlich einsam, erst recht auf der Bühne?
JURGENSEN: Total.
ABENDBLATT: Was machen Sie dagegen?
JURGENSEN: Es ist nicht so schlimm, es tut nicht so weh, man ist nicht so einsam, es ist eigentlich vor allem schön. Man ist für sich selbst verantwortlich. Ich tanze aber am liebsten mit einem Partner. Man sieht die Augen, man hat Kontakt, und das bringt ein wenig Realität.
ABENDBLATT: Aber Männer in Strumpfhosen sind doch nicht wirklich sexy, oder?
JURGENSEN: Doch! ( lacht) Das kommt drauf an. Man muss die Strumpfhose ein bisschen ignorieren . . .
ABENDBLATT: Merken Sie morgens, dass Sie abends gut sind?
JURGENSEN: Nein, das kann man nicht vorhersehen.
ABENDBLATT: Dann können Sie an schlechten Tagen wie auf Autopilot tanzen? Können Sie sich so sehr disziplinieren?
JURGENSEN: Ja. Man überrascht sich. Ich kann mich immer noch überraschen, das ist dann immer wie ein Wunder.
ABENDBLATT: Wann haben Sie damit aufgehört, Ihre Verletzungen zu zählen?
JURGENSEN: Ich habe nur ganz wenige gehabt, und nie wirklich schwere. Chronisch ist allerdings eine Sehnenentzündung. Ich muss ständig arbeiten; wenn ich wenig tue, wird es schlimmer. Aber damit lebe ich seit sechs Jahren.
ABENDBLATT: Das Dilemma ist aber da: Tanzen ist Ihr Lebenstraum, und Tanzen auf Ihrem Niveau tut weh. Wie gehen Sie damit um?
JURGENSEN: Das ist jeden Tag anders, wenn man die Kraft hat, es zu schaffen.
ABENDBLATT: Trotzdem: Es tut weh.
JURGENSEN: Ja.
ABENDBLATT: Und das ist eindeutig nicht schön.
JURGENSEN: Aber danach, dann ist es so wunderschön. Und man weiß, dass etwas Gutes, ganz Fantastisches dabei herauskommt.
ABENDBLATT: Spüren Sie Schmerzen nicht mehr, sobald Publikum dabei ist?
JURGENSEN: Weniger, ja. Das kann man völlig vergessen. Eine Vorstellung ist eine ganz andere Welt.
ABENDBLATT: Wenn Sie in Ihrem Leben etwas ungeschehen machen könnten, was wäre das?
JURGENSEN: Gar nichts.
ABENDBLATT: Ein Leben, das immer richtig gelaufen ist?!
JURGENSEN: Nein. Aber wenn etwas ganz fürchterlich schiefgegangen ist, habe ich am meisten daraus gelernt. Es hat dann immer viel damit zu tun gehabt, wie man mit anderen umgeht. Das habe ich, als ich jung war, sehr unterschätzt - in Beziehungen, beim Umgang mit Kollegen.
ABENDBLATT: Haben Sie schon mal jemanden getroffen, der Ihnen nach einer Vorstellung sagte: ,Sie haben mein Leben verändert'?
JURGENSEN: Ich habe schon sehr Schönes gehört und auch Briefe bekommen; die behalte ich. Ein Beispiel: Jemand war krebskrank und hat mich um ein Paar Spitzenschuhe gebeten, die sie ins Krankenhaus mitgenommen hat. Später habe ich einen Brief erhalten, in dem sie schrieb: Ich habe überlebt, jetzt kann ich wieder in eine Vorstellung gehen, ich bin gesund. Das war schön.
ABENDBLATT: Gibt es ein Talent, von dem noch niemand weiß?
JURGENSEN: Ich habe damit begonnen zu schreiben und über andere Menschen zu berichten.
ABENDBLATT: Mein Körper kann etwas Besonderes - ich kann meinen kleinen linken Finger extrem weit wegknicken. Können Sie auch etwas so Einzigartiges?
JURGENSEN: Ooh, nein . . .! So etwas nicht (lacht).
ABENDBLATT: Wann haben Sie zuletzt geweint?
JURGENSEN: Vor der letzten Premiere.
ABENDBLATT: Weil Sie beginnt oder vor Angst?
JURGENSEN: Es war eine Mischung aus Verschiedenem. Meine beste Freundin war da, sie kennt mich viele Jahre; wieder Balanchine zu tanzen, das war mein Zuhause. Obwohl ich so viele Premieren schon erlebt habe, das ist jedes Mal einmalig, aber auch . . . traurig.
ABENDBLATT: Wo sehen Sie sich mit 45?
JURGENSEN: Es ist ganz schwierig für mich, mir vorzustellen, woanders zu leben, obwohl ich vom Reisen so begeistert bin. Aber ich sehe mich immer noch hier, vielleicht mit Familie. Und ich will meine Perspektiven erweitern.
ABENDBLATT: In welche Richtungen?
JURGENSEN: Alle. Ich würde auch gern wieder zurück zur Uni. Aber das Fach verrate ich noch nicht.
ABENDBLATT: Welche Musik ist auf Ihrem iPod?
JURGENSEN: Sehr viel Amerikanisches; etwas Folk, etwas Rock 'n' Roll, viel Jazz und ein bisschen Klassik.
ABENDBLATT: Wonach tanzt eine Primaballerina privat? Und tanzt sie überhaupt privat?
JURGENSEN: Ja, ganz gern, aber nicht so oft, obwohl ich früher sehr oft in Klubs gegangen bin. Das ist dann mehr ein Loslassen, ganz anders als Ballett. Das braucht man auch.
ABENDBLATT: Wie sehr kann man sich als Künstlerin ausleben in einer Choreografie, die jemand anders entworfen hat?
JURGENSEN: Ich habe das Glück, mit einem Choreografen zu arbeiten, der die Menschen richtig sieht. Wenn etwas extra für mich gemacht ist, ist das ja auch eine Ehre und ein Geschenk. Ich weiß aber auch, dass ich jede Vorstellung etwas anders gestalten kann, das ist mir erlaubt. Es gibt Grenzen, aber innerhalb davon kann ich mich frei bewegen. Das genügt mir auch.
ABENDBLATT: Wie lange brauchen Sie nach einer Vorstellung, um aus Ihrer Rolle zu kommen und wieder Heather zu sein?
JURGENSEN: Das fängt zunächst langsam an, das Gefühl: Etwas ist mir passiert. Es kann aber auch passieren, dass ich noch am nächsten Morgen spüre, dass ich immer noch etwas anders bin. Man hat alles gegeben, geschwitzt, es ist eine Reinigung.
ABENDBLATT: Welchen Teil des Work-outs hassen Sie besonders?
JURGENSEN: Pirouetten. Und am liebsten mag ich Sprünge.
ABENDBLATT: Haben Sie als Balletttänzerin eigentlich auch das, was andere Frauen als ,Problemzone' verfluchen?
JURGENSEN: Ja, die haben wahrscheinlich fast alle von uns. Ich habe meine Schwächen - meine Beine sind nicht ganz gerade, sie sind ein wenig o-beinig, all das weiß ich ganz genau.
ABENDBLATT: Wann war das letzte Stück Sahnetorte?
JURGENSEN: Mir sind Brownies lieber. Und Eis. Im Moment ist sehr viel Eis angesagt.
ABENDBLATT: Das geht? Und rächt sich nicht sofort?
JURGENSEN: Nein, meine Eltern haben mir einen guten Stoffwechsel vererbt. Bis jetzt habe ich mir noch keine Sorgen gemacht.
ABENDBLATT: Wie haben Ihre Eltern auf Ihren Berufswunsch Balletttänzerin reagiert?
JURGENSEN: Damals nicht so begeistert, jetzt ist es das Gegenteil. Na ja, ich komme aus einer kleinen Stadt und habe das anfangs mit meiner Schwester nur zum Spaß gemacht. Doch dann wurde es ernst, ich bekam diese Einladung nach New York, und sie haben sich ein Jahr lang geweigert, mich loszulassen. Sie haben das auch nicht als Beruf betrachtet, etwas, womit man Geld verdienen kann und respektiert wird.
ABENDBLATT: Gab es Reibereien mit der Schwester, als sie merkte, dass Sie besser sind?
JURGENSEN: Ich bin weggegangen, und sie hat langsam mit dem Tanzen aufgehört. Sie ist ausgebildete Soziologin, hat jetzt zwei Kinder und ein Geschäft für Inneneinrichtung.
ABENDBLATT: Worüber ärgern Sie sich - außer über Schmerzen?
JURGENSEN: Dass ich nicht alles erreichen kann, was ich mir vornehme. Meine persönlichen Fehler kann ich immer noch nicht akzeptieren.
ABENDBLATT: Und was macht Sie glücklich - außer Tanzen?
JURGENSEN: Kommunikation. Mit Freunden reden und ausgehen.
ABENDBLATT: Und wer zuerst das Wort "Ballett" erwähnt, fliegt raus? Trennen Sie Beruf und Privatleben so strikt voneinander?
JURGENSEN: Ich war eine Zeit lang so. Aber mein Partner ist auch Tänzer, und da gibt es eben immer wieder etwas zu besprechen.
ABENDBLATT: Wer hat Ihren Stil geprägt?
JURGENSEN: Meine Freunde in New York.
ABENDBLATT: Und Ihr Lieblingsdesigner?
JURGENSEN: Prada. Aber ich bin eher kein Typ für exzessives Shopping. In New York hat es mir immer Spaß gemacht, etwas zu finden, was andere nicht tragen.
ABENDBLATT: Wollten Sie jemals etwas anderes als Tänzerin werden?
JURGENSEN: Ja, sehr oft. Ich habe damals in New York studiert und wollte eigentlich aufhören. Ich habe Tanz und die Tänzer immer wie von außen betrachtet, fühlte mich immer ganz objektiv. Damals habe ich unter anderem Literatur und Psychologie studiert, in diese Richtungen war ich neugierig.
ABENDBLATT: Gab es den Wunsch nach einem anderen Beruf auch noch, nachdem Sie Tänzerin geworden waren?
JURGENSEN: Ja, und es gibt ihn immer noch. Weil ich auch an meine Zukunft danach denke. Wenn ich aufhöre, wer bin ich dann?
ABENDBLATT: Wenn Sie aufhören, wer sind Sie dann?
JURGENSEN: Mal sehen.
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