Berlin. Irgendwo in den Innereien der Deutschen Oper, in einem abgewetzten Besprechungsraum: Christian Thielemann kommt etwas zu spät - und bringt, wiedergutmachend, ein paar Mon Cheris mit. Nach dem Interview ist er kaum aus dem Fahrstuhl - und ruft schon barsch nach seiner Sekretärin. Widersprüchliche Charakterzüge, die wohl typisch sind für den 44-Jährigen, der mühelos vom charmanten Plauderton auf forsches Berlinern umschalten kann. ABENDBLATT: Sie haben sich den denkbar übelsten Beruf ausgesucht: Das Reisen von Konzert zu Konzert geht Ihnen auf die Nerven, und Ihre Lieblingsstücke, insbesondere die von Wagner, machen Sie buchstäblich krank. CHRISTIAN THIELEMANN: Wo haben Sie denn das gehört? So schlimm ists nun auch nicht, aber man sollte sich in der Tat davor hüten, zu viel zu machen, was man aber erst lernen muss. Jedes Mal, wenn ich den Bayreuther Festspielhügel hochfahre, jagt mir ein Schauer den Rücken runter, und wenn ich da in der Probe sitze, sage ich mir: Ja, ja, ja! Bei so viel Intensität muss man eben lange Ruhepausen einlegen. ABENDBLATT: Haben Sie Christoph Schlingensief, mit dem Sie für Arte eine Tour durchs nächtliche Berlin unternommen haben, schon einen Spickzettel für seine "Parsifal"-Regie im nächsten Jahr in Bayreuth geschrieben? THIELEMANN: Den macht er schon selbst. Ich find Schlingensief toll, unsere Tour war lustig. Wir haben viel gemeinsam . . . Wir haben oft über Wagner gesprochen, er ist ganz schön weit. ABENDBLATT: 2006 ist Ihr "Ring" auf dem Grünen Hügel fällig, größere Brocken gibts dort nicht zu stemmen. Ab 2010, wenn der abgespielt ist, können Sie den Laden also nur noch übernehmen. THIELEMANN: Quatsch - ich will dirigieren, nicht regieren. Die emotionalen Höhenflüge, die Sie als Dirigent in Bayreuth haben, die gibts so nirgendwo sonst. ABENDBLATT: Wie problematisch ist für Sie, künstlerisch wie politisch, der Umgang mit dem Begriff Tradition, erst recht als deutscher Dirigent und ganz besonders im Zusammenhang mit Bayreuth? THIELEMANN: Ich habe mit dem Begriff keinerlei Probleme. Wo wäre denn die Menschheit ohne Traditionen? Außerdem ist der Begriff Tradition nicht eindeutig. Es gibt unendlich viele Traditionen, die ihre Berechtigung haben. Gleichzeitig muss man sie immer wieder hinterfragen. Aus dieser Spannung schöpfe ich für meine Tätigkeit. ABENDBLATT: Haben Sie Nike Wagners Bayreuth-kritisches "Wagner-Theater" und Brigitte Hamanns Buch über Winifried Wagner gelesen, und wie ist Ihre Meinung dazu? THIELEMANN: Nike Wagners Buch kenne ich nicht so gut. Frau Hamanns Arbeit gefällt mir sehr, weil sie sich bemüht, Fakten nicht einseitig unter einem bestimmten Blickwinkel darzustellen, wodurch Winifried die ihr zustehende Gerechtigkeit widerfährt. ABENDBLATT: Bei Ihren Gastdirigaten in Hamburg seit 1988 haben Sie mit Strauss- und Wagner für viel Furore gesorgt. Demnächst geht Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher. Ein Grund mehr für Sie, an die Dammtorstraße zurückzukehren? THIELEMANN: Herr Metzmacher ist ein Kollege, den ich sehr schätze und wir wollten uns immer gegenseitig zu unseren Orchestern einladen, was leider immer an der Terminsituation gescheitert ist. Nun freue ich mich, mit meinem eigenen Orchester nach Hamburg zu kommen. Nicht mehr, nicht weniger. ABENDBLATT: Bei der Lektüre Ihrer Biografie drängt sich die Frage nach dem Antriebsmotor Versagensangst auf. THIELEMANN: Das treibt jeden um. Sie dürfen sich ja nie sicher sein. ABENDBLATT: Als Dirigent müssen Sie der Sicherste im Saal sein. THIELEMANN: Ja, natürlich, aber nur der Sicherste im Moment und für das, was man da tut. Generell muss man sich immer wieder hinterfragen. ABENDBLATT: An wie vielen Abenden sind Sie mit sich zufrieden? THIELEMANN: Ich bin immer nur mit Teilen von mir zufrieden. ABENDBLATT: Sie gelten als genialischer, aber ruppiger Charismatiker. Haben Sie Frieden geschlossen mit Ihrem Image? THIELEMANN: Ich habe gar kein Image. Wenn ich das Wort höre, wird mir schon schlecht. ABENDBLATT: Ohne kommt man nicht mehr weit in Ihrem Metier. THIELEMANN: Das wird einem aufgesetzt. Ich muss doch nicht Frieden schließen mit dem, was andere über mich denken. Ich fühl mich ziemlich wohl so. ABENDBLATT: Sie haben gut verborgene Interessen, nicht einmal zwischen den Zeilen Ihres Buchs findet sich etwas darüber. THIELEMANN: Ich bin auch nicht der Meinung, dass das die Leute etwas angeht. Wir hatten so interessante Gesprächsthemen, da fanden wir es besser, über die Musik zu sprechen als über Rotweine oder Spaziergänge im Park von Sanssouci. ABENDBLATT: Im Buch ist zu lesen, Sie hätten Furcht vor Brahms' Musik. Dennoch dirigieren Sie in Hamburg seine 1. Sinfonie. THIELEMANN: Ich habe keine Angst vor Brahms, ich habe immer Angst vor Intensität. ABENDBLATT: Man nannte Sie einmal "Verausgabungskünstler". THIELEMANN: Stimmt. Das Publikum merkt, wenn einer nicht sein Letztes gibt. ABENDBLATT: Ihre Platteneinspielungen präsentieren Sie vor allem als Dirigent von Orchesterrepertoire, mit Solo-Konzerten hört man da wenig von Ihnen. Möchten Sie den Erfolg nicht teilen müssen mit einem Virtuosen? THIELEMANN: Ich gelte als guter Begleiter und kann unglaublich gut und gerne dienen. Auch ein Dirigent möchte schließlich mal geführt werden. Aber was Repertoirepolitik betrifft, da sprechen Sie am besten mit meiner Plattenfirma. Ich würde gern viel mehr Opern und Konzerte aufnehmen. ABENDBLATT: Auf den Streit um Ihr Faible für Pfitzner bezogen, der wegen seiner Schwäche für die Nazis umstritten ist, haben Sie die rhetorische Frage gestellt: "Kann eine Tonart politisch sein?" Darf Kunst unpolitisch sein? THIELEMANN: Natürlich darf sie das. Was ist an einer Brahms-Sinfonie politisch? Nur wenn Stücke politisch intendiert sind, sind sie politisch. An sich ist die Neunte von Beethoven so politisch wie unpolitisch, so allgemein wie speziell. Ein großes Kunstwerk ist nie eindeutig. ABENDBLATT: Wie ist dann Ihr Verhältnis zur Musik von Schostakowitsch, dessen Werke oft im Konflikt zwischen Persönlichem und Politischem standen? THIELEMANN: Schostakowitsch ist schon lange in der Planung, er reizt mich sehr. Aber man kann nicht alles auf einmal machen. ABENDBLATT: Gibt es Repertoire, vor dem Sie sich fürchten? THIELEMANN: Mahler macht mich manchmal unglücklich. Interview: JOACHIM MISCHKE
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