Die eindringliche Dokumentation “Auf das Leben!“ zeigt eine Normalität, die vielen unbekannt ist

Berlin. Hochzeitsvorbereitungen in Hannover. Ein bisschen geht es zu wie in Vincente Minnellis Hollywoodkomödie "Vater der Braut". Die vielen Entscheidungen! Die Kosten! Während sich seine Tochter bei Lilly Moden vorm Spiegel dreht und die Mutter glücklich im Hintergrund herumzwitschert, zupft der Vater kurz an der Seide und wirft bei der Gelegenheit einen Zwei-Sekunden-Blick aufs Preisschild.

Auf den ersten Blick sind die Seidlers eine deutsche Familie wie jede andere. Sind sie aber nicht. Die Seidlers sind Juden. "Auf das Leben! Jüdisch in Deutschland" hat Gesine Enwaldt ihren Film genannt, den die ARD am heutigen Sonnabend in einer einstündigen Fassung ausstrahlt, bevor 3sat am 30. Juni die 90-minütige Langfassung zeigt. Es ist, man mag es NDR-Intendant Lutz Marmor fast nicht glauben, die erste ausführliche Dokumentation über jüdisches Alltagsleben in Deutschland. Ein Film über jüdische Normalität, von der die meisten Nachbarn so gut wie gar nichts wissen. Selbst die Kameraleute und Tontechniker mussten zugeben, dass dies für sie der erste Einblick in eine für sie unbekannte Welt gewesen sei. Die Porträtierten selbst berichten von einer Mischung aus Unsicherheit und Neugier, mit der man ihnen begegne. Tenor: Sie seien "die ersten Juden", die man treffe ...

Geschätzt leben heute wieder 250 000 Juden in Deutschland, die Hälfte davon ist in jüdischen Gemeinden organisiert. Was die unsichtbaren Barrieren aufrechterhält, erklärt der Film nicht. Wenn er Fragen offenlässt, dann solche, über die jeder von uns am besten selbst nachdenkt. Zum Beispiel über die, warum er eigentlich noch nie zu so einem fröhlichen Sabbatessen eingeladen war, wie es die Seidlers am Freitagabend in ihrem Garten veranstalten. Oder warum er noch nie in eine Synagoge hineingeschaut hat.

In Hannover, wo Enwaldt ihren Film gedreht hat, leben inzwischen wieder 8000 Juden. Das ist wenig, wenn man weiß, dass hier vor 1933 eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands bestanden hat. Das ist viel nach Auschwitz und Buchenwald.

Der Holocaust ist, wie sollte es auch anders sein, die Folie, auf der der Film entstanden ist - sein Thema ist es nicht.

Die Stärke von Gesine Enwaldts Film liegt darin, dass er nichts kommentiert. Der Grimme-Preis rückt für sie damit in greifbare Nähe. Letztlich aber steht und fällt "Auf das Leben!" mit seinen umwerfenden "Hauptdarstellern". Mit Andor Izsak, mit Rabbi Wolff und, natürlich, mit den Seidlers.

"Auf das Leben! Jüdisch in Deutschland" Sonnabend, ARD, 17.55 Uhr