Wer in Deutschland mit einer schweren Behinderung zur Welt kommt, hat Glück – im Vergleich zu vielen anderen Ländern, in denen Menschen mit Behinderungen wenig soziale und medizinische Leistungen erfahren. Hierzulande haben Menschen mit Behinderungen viele Rechte, sie erhalten medizinische Hilfsmittel und Therapien sowie Möglichkeiten, sich gemäß ihren Talenten zu entfalten. Es gibt inklusive Schulen, Einrichtungen und sogar als Arbeitgeber die Pflicht, Schwerbehinderte einzustellen.
Behinderte Angehörige: Familien müssen oft um ihre Rechte kämpfen
So weit die schöne Theorie. Denn in Wahrheit müssen viele Familien mit behinderten Angehörigen sehr häufig um ihre Rechte kämpfen – vor allem mit Krankenkassen. Sie können oft eher mit einer Ablehnung für ein Hilfsmittel vonseiten eines Krankenkassen-Mitarbeiters rechnen als mit einer Zusage. Wer dann nicht zeitnah widerspricht und sich umfassend informiert, hat oft wenig Chance auf Erfolg. Diese Erfahrung machen wir nicht nur beim Verein Hamburger Abendblatt hilft, an den sich viele verzweifelte Eltern wenden, sondern das berichten auch Jugendhilfe- und Beratungsstellen, leider nicht offen, denn niemand möchte es seinen Klienten noch schwerer machen.
Wenn eine Ablehnung erfolgt ist, müssen Eltern Widerspruch dagegen einlegen, eventuell neue medizinische Gutachten erstellen lassen, im Zweifel entscheidet das Sozialgericht. Das braucht viel Kraft und einen langen Atem – was Eltern, die ihre behinderten Kinder zu Hause pflegen, oft nicht haben. Sie sind schwer belastet. Ich habe einen Fall erlebt, in dem eine Familie über Jahre um einen Bewegungstrainer für ihr schwerbehindertes Kind gekämpft hat, es sollte den zunehmenden Spastiken entgegenwirken. Als die Familie schließlich vor dem Sozialgericht Recht bekam, brauchte das Kind keinen Bewegungstrainer mehr, die Muskelkontraktionen waren schon zu weit fortgeschritten.
Behinderte Angehörige: Junger Mann auf schlimmste Art seiner Jugend beraubt
Das betrifft nicht nur Krankenkassen, sondern auch die Eingliederungshilfe, das Jugendamt – oder wie im Fall der Familie Kuyateh, für die sich der Abendblatt-Verein sehr eingesetzt und unterstützt hat – das städtische Wohnungsunternehmen Saga. Es hat wissentlich zugelassen, dass ein 19-Jähriger im Rollstuhl drei Jahre lang in seinem Kinderzimmer wie eingesperrt blieb, weil die Zimmertüren der Wohnung zu schmal und eine Treppe zum Ausgang für ihn unüberwindlich waren. Trotz etlicher Briefe von Sozialarbeitern – „ein würdevolles Leben ist dem Jungen nicht möglich“ – reagierte die Saga erst auf Druck vonseiten eines engagierten Mitarbeiters der Sozialbehörde. Seit Oktober 2023 wohnt die vierköpfige Familie in einer ebenerdigen Wohnung. Es ist für mich der schlimmste Fall von Behördenversagen, über den ich je berichtet habe. Hier wurde ein junger Mann auf schlimmste Art seiner Jugend beraubt.
Spannend dabei: Auf Abendblatt-Anfragen zu diesem Fall reagierten sowohl Saga als auch deren Krankenkasse sehr schnell. Was jahrelang verzögert wurde, hatte plötzlich Priorität. Die AOK schickte unverzüglich eine Patientenbegleiterin in die Familie, die nun mit Kreativität zuvor abgelehnte Hilfsmittel ermöglichte. Die Saga genehmigte in Rekordzeit einen Umbau des neuen Badezimmers. Das ist gut für die Familie, aber beschämend für alle Sachbearbeiter, die der Familie davor einen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt hatten. Ich befürchte, dass dies kein Einzelfall ist – und es gibt sicher auch viele gute Menschen bei Krankenkassen, bei der Saga und beim Jugendamt. Doch von allen anderen wünsche ich mir, dass sie künftig mit mehr Herz und zum Wohl der Antragsteller agieren.
Der Fall der Familie Kuyateh im Podcast Von Mensch zu Mensch unter:
https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/
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