Geneviève Wood
An guten Tagen lachen Bo und Keke viel, dann gucken sie ihrer großen Schwester Lina beim Tanzen zu und freuen sich. An schlechten Tagen müssen sie mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren werden, weil sie manchmal von einer Minute auf die andere keine Luft mehr bekommen und in Lebensgefahr sind. Die Zwillinge Bo und Keke sind Ende April ein Jahr alt geworden, und das, obwohl die Ärzte sich nicht sicher waren, ob sie den Winter überhaupt überleben. Die Jungs haben eine massive Muskelschwäche und leben nur, weil sie 24 Stunden lang von Maschinen beatmet werden. Die beiden entwickeln sich nun gut weiter, weil sie zu Hause bei ihrer Familie sind und Fachleute der Häuslichen Kinderkrankenpflege Hamburg e. V. sie Tag und Nacht umsorgen.
Als Jenny Trampler erfuhr, dass sie Zwillinge erwartete, war das eine Riesenüberraschung. Da war Lina noch nicht einmal zwei Jahre alt. Sie und ihr Mann Okko Goeters standen also vor einer ziemlich großen Herausforderung. Wie groß diese tatsächlich sein würde, ahnten die beiden nicht. Denn die Kleinen im Bauch schienen gesund zu sein. Dass ein Jahr nach der Geburt eine Intensivstation mit medizinischen Apparaten im Wert von rund 100.000 Euro in ihrem Wohnzimmer und im Keller aufgebaut sein würde und ihre Söhne in einem Intensivkrankenbett vor dem Wohnzimmerfenster liegen, dass Sauerstoffkonzentratoren im Keller Tag und Nacht brummen und zwei Kinderpflegekräfte in ihrem 120-Quadratmeter-Reihenhaus mit ihnen rund um die Uhr leben würden, das konnten sie nicht wissen.
Vier Monate verbrachten die Eltern im UKE, dann erfuhren sie die Diagnose
Als Jenny Trampler die eineiigen Zwillinge etwas zu früh in der 32. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt zur Welt brachte, war das auch noch kein Grund zur Sorge. Die beiden waren sehr schlaff nach der Geburt, aber das konnte an einer Infektion liegen – nach einem Blasensprung nicht unüblich. „Dann ging das Riesendrama los“, sagt Jenny Trampler. Irgendetwas stimmte so ganz und gar nicht mit den Säuglingen. Erst vier Monate später lag eine Diagnose vor: X-Chromosomale Myotubuläre Myopathie, eine massive Muskelschwäche, die alle Skelettmuskeln betrifft. Die Jungen benötigten von Anfang an Unterstützung beim Atmen. „Das Realisieren, dass hier etwas ganz anders läuft, als man sich das noch bis kurz nach der Geburt vorgestellt hatte, war das Schlimmste“, sagt die 35-Jährige. „Wir sagten uns immer, wir haben Hoffnung und genießen die Zeit, die wir haben.“ Vier Monate verbrachten die Eltern im UKE. Einer war bei den Jungs und ein anderer zu Hause bei Lina in Volksdorf.
Und hier versuchen die Eltern Bo und Keke und auch Lina ein normales Leben zu ermöglichen, das jedoch nie normal sein wird. „Sie werden nie im Garten Trampolin springen, nie im Garten spielen können“, sagt Jenny Trampler. Das sind die Gedanken, die der Mutter manchmal kommen. Dazu die Sorge, dass Lina sie irgendwann fragen wird, wo ihre Kindheit geblieben ist. Am Anfang der Diagnose war das schwer zu ertragen. „Da geht man durch die Hölle.“ Und immer auch die Frage: Sterben ihre Söhne?
Von diesen traurigen Gefühlen ist zumindest an diesem Vormittag nichts zu spüren. Kinderkrankenschwester Bianca Brüning bespaßt Bo, der sie anlächelt. Kinderkrankenpfleger Christian Seemann ist da, und eine Logopädin massiert Keke die Füße und tastet sich so behutsam bis zu den Gesichtsmuskeln vor. Die beiden können Arme und Beine bewegen, vom Rücken auf den Bauch rollen können sie noch nicht und beim Sitzen werden sie in Therapiestühlen unterstützt.
Zurzeit arbeiten alle daran, dass die beiden ihre Köpfe besser halten können. Und wenn Keke, der etwas Bedachtere und Sensiblere von beiden, morgens mit der Zunge schnalzt, ist das für Mutter Jenny das Größte. Dann ist sie sehr stolz auf ihren Kleinen. Bo ist etwas offener als sein Bruder und lacht gern drauflos. „Wir sind bei allen Umwegen, die wir gehen, sehr dankbar, dass es jetzt doch so gut klappt“, sagt die Mutter.
Dass Überwachungsmonitore in der einen Wohnzimmerecke stehen, die die Herzfrequenz und die Sauerstoffsättigung überwachen, ist hier eben so. Die kleinen Brüder sind heute angeschlagen, weil Lina aus der Krippe eine Erkältung mitgebracht hat. Für Bo und Keke, die nach einer Lungenentzündung und einem Luftröhrenschnitt im Oktober mittels einer Trachealkanüle beatmet werden, kann das schnell lebensgefährlich sein. Für Trübsinn ist heute jedoch in dem Wohnzimmer zu viel Trubel.
Rund um die Uhr kümmern sich Kinderkrankenpfleger um die Zwillinge
Allein ist Jenny Trampler nie. 14 Fachkräfte gehören zu dem Team der Häuslichen Kinderkrankenpflege Hamburg, das sich um die Zwillinge kümmert. Die meiste Zeit sind immer zwei von ihnen – 365 Tage im Jahr – 24 Stunden im Drei-Schichten-System für Bo und Keke da. Die beiden haben durch die Beatmung keine Stimmen, können nicht schreien und auf sich aufmerksam machen. Deshalb sind Kinderkrankenschwester Bianca Brüning und ihre Kollegen immer bei den Kleinen, in der Nacht liegen sie auf einem Sofa im Zimmer der Jungs im Untergeschoss. Zehn- bis 50-mal am Tag müssen sie Sekret absaugen, weil die Zwillinge dieses nicht abhusten oder hinunterschlucken können. Wenn Lina morgens mit ihren Eltern frühstückt, versorgen die Pfleger die Jungs. Sie sind immer dort, wo die Zwillinge sind. Bei Familienfeiern ziehen sie sich vielleicht einmal für eine halbe Stunde zurück. Es ist ein sehr enges Miteinander.
„Ich bin super dankbar, dass wir so klasse Leute haben“, sagt Jenny Trampler. Ohne die häusliche Pflege müssten die Eltern zwischen Krankenhaus und ihrem Zuhause pendeln. „Das ist wahnsinnig anstrengend und eine Zerreißprobe.“ Vater Okko arbeitet als Handwerksmeister von morgens bis abends. Dass fast ständig zwei Menschen mit in ihrer Familie leben, damit kommen Jenny Trampler, ihr Mann und Lina klar. Sie haben Glück, weil die Chemie zwischen der Familie und den Pflegern stimmt. Das ist nicht immer der Fall. „Manchmal muss man sich dann auch trennen. Wenn Eltern nicht damit klarkommen, dass ständig jemand mit ihnen lebt, ist eine Pflege im Krankenhaus für diese Familien die bessere Lösung“, sagt Pflegedienstleiter Thomas Schnahs. Allerdings steigt die Nachfrage nach Pflegekräften, die Kinder zu Hause betreuen. „Es gibt nur wenige häusliche Pflege, die auf Kinder spezialisiert sind“, sagt Schnahs. Die Nachfrage, sagt er, werde mit dem Fortschritt der medizinischen Möglichkeiten weiter steigen. „Es wird mehr beatmete Kinder geben, die in ihrem Zuhause leben können, weil die Beatmungsgeräte immer kleiner werden.“ Die Lebensqualität verbessere sich dadurch erheblich: „Die Kinder bekommen Luft, haben keine Schmerzen und leben zu Hause in ihrem sozialen Umfeld“, so Schnahs. Bo, Keke und Lina haben ein sehr inniges Verhältnis. „Bo himmelt seine Schwester an. Die sind wirklich sehr glücklich“, sagt Jenny Trampler.
Es sind ganz normale, lebensfrohe Kinder, sagt sie, die allerdings beatmet werden. Der blaue Schlauch führt die befeuchtete Raumluft in die Lungen, der weiße führt die verbrauchte Luft in den Raum zurück. Bo und Keke sind mit ihren dunklen lockigen Haaren sehr niedliche Kinder. Am liebsten würde der Besucher sie einfach auf den Arm nehmen – das geht aber wegen der Beatmungsgeräte und Schläuche nicht.
Über Spendengelder hat die Familie ein behindertengerechtes Auto angeschafft, auch der Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“ hat sich daran beteiligt. Zwar sind Ausflüge zum Tierpark Hagenbeck und Spaziergänge mit viel Organisations- und Zeitaufwand möglich, aber Jenny Trampler weiß doch, dass sie alle immer ans Haus gebunden sein werden.
Ihre Idee von einem schönen Leben sieht vor, dass Bo und Keke weiter Fortschritte machen und dass sie ein größeres Haus finden, in dem die Kinder ebenerdig gepflegt werden können, in dem die Kinderpfleger einen eigenen Bereich haben und die Jungs ein richtiges Kinderzimmer bekommen. Ein Haus, das die Familie nicht von Freunden und Bekannten isoliert.
Die Familie braucht dringend ein größeres Haus: Bitte melden Sie sich direkt bei Jenny Trampler und ihrem Mann Okko unter der E-Mail:
zuhause-fuer-bo-keke@web.de oder Tel. 53 16 09 91.
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