Hamburg. Es war buchstäblich ein Paukenschlag aus heiterem Himmel. Am 4. Mai 1993 um 11.05 Uhr verkündete Helmut Plambeck, der Präsident des Hamburgischen Verfassungsgerichts: „Die Wahlen zur Bürgerschaft und zu fünf der sieben Bezirksversammlungen vom 2. Juni 1991 sind ungültig.“ Hamburgs höchstes Gericht ordnete die Auflösung des Parlaments und zügige Neuwahlen an.
Das war nichts weniger als eine politische Bombe, deren Detonationswellen sofort durch die Republik liefen. Nie zuvor in der Geschichte der zweiten deutschen Demokratie hatten Richter eine komplette Landtagswahl annulliert (und seitdem erst einmal: in Berlin die Abgeordnetenhauswahl von 2021). Selten zuvor dürften die Konsequenzen der Gewaltenteilung des funktionierenden Rechtsstaats für Politikerinnen und Politiker, aber auch für Wählerinnen und Wähler spürbarer und folgenreicher gewesen sein.
Neuwahlurteil 1993: So spektakulär wie die Gerichtsentscheidung selbst war deren Begründung
Dabei hatten selbst langjährige Beobachter der Rathauspolitik mit dieser Entscheidung nicht gerechnet. „Niemand in der Stadt hat doch erwartet, dass die Klage Erfolg haben würde“, sagt Veit Ruppersberg, der damals als Abendblatt-Reporter die Verkündung des Neuwahlurteils im Gebäude des Hanseatischen Oberlandesgerichts am Sievekingplatz verfolgte und darüber berichtete. Der erfahrene Journalist hatte nicht einmal für nötig befunden, einen Fotografen für den Termin zu bestellen.
So spektakulär wie die Gerichtsentscheidung selbst war deren Begründung. Während sich Verfassungsbeschwerden in den meisten Fällen gegen den Senat und die Bürgerschaft richten, saß in diesem Fall die Opposition auf der Anklagebank: die CDU. Das Gericht attestierte dem Landesverband der Partei „schwerwiegende Demokratieverstöße“ bei der Aufstellung der Kandidatenliste zur Bürgerschaftswahl 1991. Auf dem CDU-Landesparteitag am 26. Januar 1991 zur Nominierung der Bewerberinnen und Bewerber für die Bürgerschaftswahl hätten sich die Kandidaten nicht vorstellen können, noch habe es eine Aussprache gegeben.
Laut Gericht waren in der CDU „Minderheiten von vornherein diskriminiert“
Ausdrücklich beanstandeten die Richter auch das Blockwahlverfahren, bei dem zehn Bewerber auf einem Stimmzettel zusammengefasst waren und nur gemeinsam gewählt werden konnten – ohne die Möglichkeit, den einen oder die andere abzulehnen. Die Blocklisten waren Vorschläge der Parteispitze, die vom Parteitag zweimal abgelehnt werden mussten, ehe es möglich war, einen Gegenvorschlag zu präsentieren. In der Praxis ist das nicht vorgekommen. Mit anderen Worten: Ohne den Segen der Parteioberen hatte kein Bewerber eine Chance.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit, so das Gericht, hätten diese schwerwiegenden Demokratieverstöße „auf das Wahlergebnis durchgeschlagen“. Bei einem gerechteren Nominierungsverfahren wären wenigstens zum Teil andere Kandidaten gewählt worden. „Minderheiten waren von vornherein diskriminiert. Die Chancen für personelle Alternativen waren gleich null. Es lagen keine Kandidatenwahlen im Sinne des Wahlgesetzes vor“, lautete das für eine demokratische Partei vernichtende Fazit in der mündlichen Urteilsbegründung des Gerichtspräsidenten Plambeck.
„Die Entscheidung war bitter, aber im wahrsten Sinn des Wortes auch bitter nötig“
Die Rechtsverstöße der CDU „sanktionslos zu lassen, wäre eine ernsthafte Gefahr für die demokratische Grundordnung“ gewesen. Das Gericht sah die verordnete Neuwahl als „Beweis für die Selbstheilungskräfte der Demokratie“ an. Und Plambeck traute der CDU zu, das undemokratische Aufstellungsverfahren zu ändern. Das Urteil bedeutete auch „kein Verdikt über die CDU in Hamburg“, die insgesamt eine demokratische Partei sei. Immerhin, möchte man meinen, auch wenn das nicht all zu viel am Desaster für die Christdemokraten änderte. Das Gericht wusste um die Dimension seiner Entscheidung und hatte lange damit gerungen. „Die Entscheidung war bitter, aber im wahrsten Sinne des Wortes auch bitter nötig“, sagte Plambeck.
Der Richterspruch war der Triumph eines Mannes, der lange für mehr innerparteiliche Demokratie in der CDU gekämpft hatte und erst wenige Tage zuvor nach 17 Jahren aus der Partei ausgetreten war: Markus Wegner, damals 40 Jahre alt und Verleger. Wegner hatte das CDU-Establishment über Jahre mit Geschäftsordnungsdebatten und Anträgen auf Landesparteitagen genervt und provoziert. Er galt als „CDU-Rebell“, wurde als „Querulant“ abqualifiziert und hatte es auch in der medialen Berichterstattung nicht leicht.
Die Kläger um Markus Wegner hatten sich prominenten juristischen Beistand gesichert
Mit dem Urteil ging eine vierjährige juristische Auseinandersetzung mit der CDU zu Ende, die Wegner mit vier Mitstreitern geführt hatte. Das Verfassungsgericht wird in der Regel von Senat oder Bürgerschaft bei Auseinandersetzungen über die Auslegung der Landesverfassung angerufen, auch zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Anliegens von Volksinitiativen. Nur wenn es um die Gültigkeit der Bürgerschaftswahl geht, dürfen auch einzelne Bürger das höchste Hamburger Gericht anrufen.
Und genau das machten sich Wegner und seine Unterstützer mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde zunutze. Die Kläger hatten prominenten juristischen Beistand an ihrer Seite: Der renommierte Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate galt schon damals als Mann für die eigentlich aussichtslosen Fälle. Der Schleswig-Holsteiner Trutz Graf Kerssenbrock hatte sich als hartnäckiger Aufklärer mit CDU-Parteibuch im Kieler Barschel-Untersuchungsausschuss einen Namen gemacht, die Partei aber später aus Enttäuschung und im Streit verlassen.
Mit dem Urteil betrat das Gericht verfassungspolitisches Neuland
Das Hamburger Neuwahlurteil von 1993 war ein historisches bedeutsames Ereignis für die Entwicklung der Demokratie, mit seinem Spruch betrat das Gericht auch verfassungspolitisches Neuland. Galten die bisherigen Beschlüsse der 1991 gewählten Bürgerschaft nach der Annullierung der Wahl überhaupt noch? Durfte diese „alte“ Bürgerschaft noch neue Beschlüsse fassen? Und war der SPD-Senat mit Bürgermeister Henning Voscherau an der Spitze noch legitimiert zu regieren?
Ganz so umstürzend, wie manche in die erste Ungewissheit hinein fürchteten, war das Urteil dann doch nicht. Bürgerschaft und Senat konnten in ihren Grundfunktionen weiter arbeiten. „Es war das Ziel des Verfassungsgerichts, für mehr Demokratie zu sorgen, und nicht, die Demokratie abzuschaffen“, sagte der Gerichtspräsident ein paar Tage nach dem Urteilsspruch. Die erste und zweite Staatsgewalt könnten schlicht nicht für Monate entfallen.
Die Beschlüsse der „alten“ Bürgerschaft hatten weiter Gültigkeit
Wie vom Gericht verordnet, löste sich die Bürgerschaft in der Sommerpause auf, um den Weg für Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen freizumachen. Anfänglich hatte es Irritationen gegeben, weil zunächst von einer Wiederholungswahl die Rede war, deren Ergebnis nur für den Rest der vierjährigen Legislaturperiode bis 1995 gegolten hätte. Die Neuwahlen bedeuteten eine neue vierjährige Wahlperiode dann bis 1997.
Dass die Beschlüsse der „alten“ Bürgerschaft zwischen 1991 und dem Urteil 1993 weiterhin Bestand haben würden, wusste der spitzfindige Jurist Voscherau schon am Tag der Verkündung der Gerichtsentscheidung. „Das Verfassungsgericht hat unter Mitwirkung derjenigen Verfassungsrichter entschieden, die durch diese Bürgerschaft gewählt worden sind“, erklärte der Bürgermeister Journalisten. Wären die Parlamentsbeschlüsse ungültig, wäre auch die Zusammensetzung des Gerichts ungültig und damit dessen Spruch. Obwohl der Sozialdemokrat stinksauer über das Neuwahlurteil war, weil es ihn seine knappe absolute Mehrheit kosten konnte (es kam bekanntlich so), hatte ihn sein Gespür für feine Ironie nicht verlassen.
Immer wieder hatte es Kritik an den innerparteilichen Machtstrukturen gegeben
Für die CDU war der Richterspruch die Stunde der größten Schmach. Ganz unerwartet kam die Gerichtsschelte für die Christdemokraten jedoch nicht. Seit den 70er-Jahren hatte es immer wieder massive Kritik an den innerparteilichen Machtstrukturen gegeben, die sich vor allem an einer Person entzündeten: Jürgen Echternach, der von 1974 bis 1992 CDU-Landesvorsitzender war und den Verband mit harter Hand führte. Berüchtigt war der „Magdalenenkreis“, in dem Echternach Gefolgsleute um sich scharte und über Karrieren, über Auf- und Abstiege entschied.
Obwohl die undemokratische Listenaufstellung der Hamburger CDU bundesweit unter den Landesverbänden einmalig und vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages bereits gerügt worden war, gab sich Echternach unbeeindruckt. Wenige Tage nach dem Urteil bemängelte der CDU-Politiker, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, die Zusammensetzung des Gerichts. Die beiden einzigen von der CDU benannten Richter seien wegen Befangenheit abgelehnt und durch zwei der SPD angehörende Richter ersetzt worden. Dies habe zu einer deutlichen SPD-Mehrheit geführt. Die Entscheidung fiel mit sechs zu zwei Stimmen.
Der langjährige CDU-Landesvorsitzende Jürgen Echternach bemängelte das Urteil
„Mir selbst scheint ein so einseitig zusammengesetztes Gericht mit überwiegend von der SPD benannten Richtern kaum geeignet, unbefangen über den Wettbewerber CDU zu urteilen“, sagte Echternach dem Abendblatt. Der Satz legt den Schluss nahe, die höchstrichterliche Verurteilung der CDU sei ein Erfolg für deren Konkurrenten SPD gewesen. Das traf die Stimmungslage bei den Genossen wohl kaum.
„Es ist bitter, dass die anderen Parteien die undemokratische Suppe, die die CDU angerührt hat, jetzt auslöffeln müssen“, sagte die damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Marliese Dobberthien mit Blick auf die Neuwahlen. Und Voscherau sagte, es sei eine „Ironie der Hamburger Geschichte, dass eine Partei, die 40 Jahre lang keine Wahl gewonnen hat, durch einen von ihr begangenen Fehler eine zweite Chance bekommen wird“.
Das Neuwahlurteil hatte erhebliche Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis der Parteien
Das Neuwahlurteil 1993 war ein Wendepunkt in der demokratischen Entwicklung des Stadtstaats: Der weitreichende Richterspruch beflügelte zumindest indirekt die langjährigen Bestrebungen um eine Verfassungs- und Parlamentsreform, die 1996 auch beschlossen wurde: Der „ewige“ Senat wurde abgeschafft, die Rechte der Abgeordneten gestärkt. Der Erste Bürgermeister wird seitdem direkt von der Bürgerschaft gewählt und die Volksgesetzgebung mit Volksbegehren und Volksentscheid wurde eingeführt.
Der 4. Mai 1993 verschob aber auch die politischen Koordinaten und hatte erhebliche Auswirkungen im Kräfteverhältnis der Parteien – mit langfristigen Folgen. Beflügelt von dem Neuwahlurteil rief Markus Wegner Ende Juni eine neue Partei ins Leben, die eigentlich keine sein wollte, wie schon der etwas verschämte Name zeigt: Statt-Partei. Der Verleger scharte ein Spektrum bürgerlicher und eher konservativer Frauen und Männer um sich, die politisches Engagement jenseits der etablierten Parteien einbringen wollten.
Die neue Partei wollte für mehr Bürgernähe und mehr demokratische Beteiligung sorgen
Die Statt-Partei traf durchaus den Nerv der Zeit, denn viele waren unzufrieden mit den Verhältnissen, wie sie waren. Politikverdrossenheit war damals ein viel gebrauchtes Stichwort. Die neue Partei wollte anders sein, für mehr Bürgernähe sorgen, für mehr demokratische Beteiligung und eine Entzerrung von Politik und Verwaltung. Der 19. September 1993, der Tag der Neuwahl, brachte die Sensation. Die Statt-Partei zog mit 5,6 Prozent in die Bürgerschaft ein.
Die SPD verlor ihre absolute Mehrheit, blieb aber stärkste Kraft, weil die CDU ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis kassierte. Die Grünen konnten ihren Stimmenanteil verdoppeln, während die FDP aus der Bürgerschaft flog. Die rechtsextremen Republikaner scheiterten mit 4,8 Prozent nur knapp. Rechnerisch waren zwei Regierungsoptionen möglich: Rot-Grün oder ein Bündnis von SPD und Statt-Partei.
Die Statt-Partei bestand darauf, nur unabhängige Experten in den Senat zu entsenden
Wie Voscherau seine Partei von der von ihm ungeliebten Liaison mit der Ökopartei abbrachte, ist eines Machiavelli würdig, aber eine andere Geschichte. Im Ergebnis ließ sich die SPD auf Voscheraus Wunschpartner Statt-Partei ein – und die Probleme begannen ziemlich schnell. Die neue Partei bestand darauf, nur unabhängige Experten in den Senat zu entsenden, und verzichtete auf Kandidaten aus den eigenen Reihen. Das wirkte zwar sympathisch, sorgte aber von Beginn für eine Entfremdung zwischen der Statt-Partei-Fraktion und dem Senat.
Der Druck auf die sieben politikunerfahrenen Statt-Partei-Abgeordneten, die nun mitregierten, war immens. Schnell zeigten sich Risse in der Fraktion, die sich zu bisweilen kuriosen Machtkämpfen auswuchsen. Wegner blieb seinem rebellischen Geist treu und überwarf sich mit fast allen Mitstreitern. 1995 verließen er und ein Getreuer Partei und Fraktion. Der Fraktionsstatus war dahin, aber es blieb bei einer knappen Mehrheit von SPD und Statt-Partei in der Bürgerschaft. Die Kooperation zwischen der Dauerregierungspartei SPD und den Newcomern hielt trotz aller Krisen vier Jahre, aber bei der Wahl 1997 verpasste die Statt-Partei den Wiedereinzug in die Bürgerschaft und versank, aufgerieben von internen Streitereien, in der politischen Versenkung.
Der moralische Tiefpunkt führte in der CDU zum Aufstieg eines Hoffnungsträgers
Das weitere Schicksal der CDU zählt zur feinen Ironie der Geschichte des Neuwahlurteils. Politisch-moralisch hatten die Hamburger Christdemokraten einen absoluten Tiefpunkt erreicht, aber der juristische Knockout sorgte für den Aufstieg eines künftigen Hoffnungsträgers: Ole von Beust. Kurios: Der Rechtsanwalt hatte als CDU-Justiziar seine Partei vor dem Verfassungsgericht vertreten, aber das schadete seiner Karriere nicht. Schnell wurde von Beust Fraktionschef in der Bürgerschaft und war 1997 erstmals Bürgermeister-Kandidat der CDU.
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Der eher unkonventionelle von Beust, dessen Homosexualität parteiintern bekannt war, nutzte das Machtvakuum und die gewisse Perspektivlosigkeit der CDU nach dem Richterspruch. „Ich wäre nie Spitzenkandidat geworden, wenn die Leute geahnt hätten, dass ich gewinnen könnte. Ich war ja eher eine Verlegenheitslösung, der Jungspund, der immer so aussieht, als käme er gerade vom Segeln. Ich weiß, dass Helmut Kohl 1997 dagegen war, dass ich Spitzenkandidat wurde“, bekannte von Beust rückblickend in einem „Zeit“-Interview in seiner typisch uneitlen Art. 2001 wurde Ole von Beust im zweiten Anlauf Bürgermeister, 2004 holte er die bislang einmalige absolute Mehrheit der CDU im „roten“ Hamburg – ein bemerkenswertes Revival elf Jahre nach dem niederschmetternden Neuwahlurteil.
Und Markus Wegner? Nachdem es ihm vor 30 Jahren einmal gelungen war, die Rathauspolitik aufzumischen, wurde es sehr ruhig um ihn. Er tauchte noch einmal kurz bei der Schill-Partei auf und schloss sich später der AfD zu Zeiten des Mitgründers Bernd Lucke an. Anfang 2015 trat er wieder aus. Das Gerichtsurteil sei ein großer Moment und Genugtuung gewesen, sagte er rückblickend. „Für die Änderung der Mauschelei-Strukturen in der CDU waren wir angetreten. Für die innerparteiliche Demokratie und Pluralität war das Urteil ein großer Sieg“, sagte Wegner. Das Urteil des Verfassungsgerichts hat ohne Frage Geschichte geschrieben.
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