In Wilhelmsburg treffen sich jede Woche junge Erwachsene. Die offene Gruppe Folkstanzwirbel hat auch über Facebook zusammengefunden.

Hamburg. Anna, 26, klickt auf ihrem Laptop ein Lied an und aus den schwarzen, zwei Meter hohen Boxentürmen im Konzertsaal der Wilhelmsburger Honigfabrik, die auch dem derbsten Rockgitarren-Geschrammel standhalten dürften, dudelt jetzt Akkordeonmusik. 20 Frauen und Männer in T-Shirt, Jeans und Jogginghosen, barfuß und auf Socken, die meisten von ihnen sind noch keine 30, stehen auf der Tanzfläche zwischen den alten Polstersofas und den schwarzen, zerkratzten Stehtischen, an dem Antifa-Sticker kleben. Sie rufen sich den Titel des Tanzes zu: „Chapelloise!“ Sie stellen sich paarweise im Kreis auf und reichen sich die Hände. Dann geht es los. Die Paare wandern rhythmisch im Kreis vor und zurück, drehen sich, tauschen die Seiten, wechseln die Hände. Sie strahlen, einige lachen laut.

Seit einem Jahr treffen sich bis zu 40 vorwiegend junge Erwachsene wöchentlich in Wilhelmsburg, um einem Hobby zu frönen, das man in Deutschland klischeehaft eher Trachtenträgern und ergrauten Traditionalisten zuordnet. Doch von solch einem Schubladendenken sind die jungen Wilhelmsburger Volkstänzer, die sich über die Facebook-Gruppe Folkstanzwirbel organisieren, weit entfernt.

Arne Theophil, 27, Pfadfinder, Kulturmanagement-Student und Musiker mit langem, lockigen Haar und lachenden Augen, hat die Gruppe ins Leben gerufen – weil er einfach Spaß daran hatte: an der alten Musik, den alten Tänzen, die in Ländern wie Frankreich, Belgien und den Niederlanden seit Langem auch junge Erwachsene begeistern. „Als ich den Raum und ein paar Leute zusammen hatte, hab ich im November 2012 über meinen Bekanntenkreis, Facebook und einen Mailverteiler den ersten Abend angekündigt.“

Die Resonanz war groß, schon am ersten Abend waren 30 Leute da, die meisten so jung wie Arne selbst. Gleich gemeldet hat sich auch Anna aus Wilhelmsburg. Sie und ihr Bruder Markos, 28, kennen die alten Schrittfolgen noch aus ihrer Kindheit in Hessen, die Mutter gab Volkstanzkurse und brachte die Kunst auch ihrem Nachwuchs bei. Jetzt gehören die beiden zu denen, die den wöchentlichen Abend mitorganisieren, Musik mitbringen, vorab Tänze aussuchen und den anderen Schritte zeigen. Heute Abend liegt der Schwerpunkt auf französischen Volkstänzen wie dem Hanter dro, bei dem sich die Tänzer seitlich unterhaken und wie eine Schlange durch den Raum trippeln oder dem Cercle Circassien (fröhlichen Kreis), bei dem in Paaren und im Kreis getanzt und geklatscht wird. Es ist vor allem diese vielfältige Interaktion, die den jungen Erwachsenen am Volkstanzen so gut gefällt, erzählen mehrere von ihnen übereinstimmend. Das sei doch was anderes, als nur für sich im Club abzurocken. Zusammen ist man weniger allein.

Auch die Organisation stemmt die Gruppe zusammen, einen festen Leiter gibt es nicht, jeder kann sich einbringen. Lediglich die grobe Stilrichtung haben die Volkstänzer für sich festgelegt: Am ersten und dritten Montag im Monat tanzen sie den eher französischen, Paartanz-orientierten Bal Folk, am zweiten und vierten Montag internationale Volkstänze, die eher in Gruppenformationen ablaufen. Auch zeitlich ist die Gruppe flexibel. „Wir tanzen so ab 20 Uhr, oft geht es bis 23 Uhr – manchmal aber auch bis halb eins“, sagt Anna. Die Begeisterung für die alten Tänze steckt an: Es kommen fast jede Woche neue Gesichter hinzu.

Heute ist Linda das erste Mal dabei. Sie hat von den jungen Volkstänzern über ihre Mitbewohnerin erfahren, die auch erst seit ein paar Wochen mitmacht. Der Einstieg fällt der 26-Jährigen nicht schwer. Während die ersten Takte der Chapelloise schon erklingen, nimmt sich Franz-Josef Krafeld – mit seinen 66 Jahren mehr als doppelt so alt wie die meisten anderen Mitglieder der Gruppe – ihrer an und zeigt ihr noch kurz ein paar Grundmuster und Schritte. Wenig später ist die lächelnde Linda Teil des wirbelnden Tanzkreises.

Dass die vielen Neuen gleich mitmachen können, das ist den jungen Volkstänzern besonders wichtig. Mittanzen, Spaß haben, genießen – darum geht es hier, weniger um das Einstudieren komplizierter Schrittfolgen oder um nüchternes Training. „Tanzen ohne Tanzschulcharakter“ nennt das Knut Siebert, der sich vor der Entdeckung des Wilhelmsburger Folkstanzwirbels in eher klassischen Volkstanzkreisen umschaute. Glücklich wurde der 32-Jährige da nicht. „Die waren für meinen Geschmack etwas überaltert. Man fühlt sich da als junger Mensch recht allein.“

In seiner neuen Wilhelmsburger Tanzheimat ist das anders. In der Gruppe haben sich inzwischen viele Freundschaften gebildet, man trifft sich jenseits der Tanzfläche – und fährt auch zusammen zu anderen Tanztreffen in der Republik etwa nach Berlin oder Leipzig. Dort kennt man die quirlige Truppe schon, nennt sie „die jungen Wilden aus Hamburg“.

Dass die jungen Wilden auch ganz sanft können, zeigen sie bei der Mazurka, einem aus Polen stammenden Tanz, der sich seit 1840 über Frankreich bis nach Deutschland verbreitete. Die jungen Volkstänzer bilden Pärchen, fassen sich an Rücken und Schultern und beginnen, sich im Takt durch den Raum zu bewegen. Sie wiegen sich sanft zu den melancholischen Klängen, viele versinken dabei in der Musik, schließen die Augen, lächeln.

Auch Neutänzerin Linda genießt ihre Runden auf der Tanzfläche. Ob sie wiederkommt? Sie nickt. Das Volkstanzfieber hat auch sie erfasst.