75 Jahre Abendblatt

Vom Leben in den geliebten, wie gehassten Grindelhochhäusern

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Andreas Hardt
Die denkmalgeschützten Grindelhochhäuser in Hamburg-Harvestehude von Süd-Osten aus.

Die denkmalgeschützten Grindelhochhäuser in Hamburg-Harvestehude von Süd-Osten aus.

Foto: Markus Scholz / picture alliance / dpa

Die zwölf Wohnhäuser in 1a-Lage galten als Symbol des Wiederaufbaus. Wie es war in den berühmtesten Hochhäusern Hamburgs aufzuwachsen.

Die Stadtrundfahrtbusse mit den interessierten Touristen kamen am frühen Nachmittag. Und dann noch einmal etwa zwei Stunden später. Langsam krochen sie die Straßenkehre entlang und verschwanden dann wieder. Die Jungs, die auf der Wiese zwischen den Häusern Hallerstraße 1 bis 5 Fußball spielten, ignorierten sie, was gab es hier schon zu sehen? Wichtiger war, das Spiel zu gewinnen und trotzdem aufzupassen, dass nicht der wertvolle Lederball auf den Parkring rollte und von einem der Anwohnerautos platt gefahren würde. Ein Lederball, das war schon was Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre.

Dass Hamburgbesucher und vielleicht sogar Hamburger selbst hier mit Bussen vorbeifuhren, um ihre Wohnhäuser zu besichtigen, zu bestaunen, sie mit Begeisterung betrachten oder vielleicht auch komplett ablehnen würden, das war für die Kinder aus den Grindelhochhäusern völlig undenkbar. Sie wohnten hier, na und? Und es wohnten dort viele. Gerade in den Häusern an der Hallerstraße, wo die Wohnungen drei und vier Zimmer zählten, weshalb dort diverse Familien ihr Zuhause hatten.

In Richtung Oberstraße wurden die Familien immer weniger, und also auch andere Kinder. Fußballmatches gegen andere Häusergruppen innerhalb der gesamten Anlage gab es deshalb nicht. Nur ganz selten wurde mal gegen die Wohlstandsjungs aus Harvestehude, aus den Villen der Parkallee, der Brahmsallee oder der Innocentiastraße gekickt. Man traf sich dann im Innocentiapark, dem „Inno“, der im Winter als Rodelberg nützlich war. Aber eigentlich wollte man mit denen nichts zu tun haben.

Grindelhochhäuser: Auf dem Areal sollte zunächst ein Wohnquartier für Offiziere entstehen

Als die Briten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Hauptquartier in Hamburg planten, suchten sie auch Raum, um ein Wohnquartier für etwa 3000 Offiziere und Unteroffiziere zu errichten. Und zwar im Geist der im „Dritten Reich“ verpönten Moderne. Das durch Bombardements zu 90 Prozent zerstörte Viertel zwischen Oberstraße und Hallerstraße sowie Grindelberg und Brahmsallee wurde schließlich für das „Hamburg project“ ausgewählt. Es lag nahe am Zentrum, angebunden durch zwei U-Bahnlinien und diverse Straßenbahnen sowie der großen Ein- und Ausfallstraße Grindelberg. Passte.

Jetzt brauchte es „nur“ noch politisch unbelastete Architekten. Es fand sich eine eine Gruppe, deren Mitglieder Bernhard Hermkes, Rudolf Jäger, Rudolf Lodders, Albrecht Sander, Ferdinand Streb, Fritz Trautwein und Hermann Zess in der Nazizeit meist mit Bauten für Industrie und Gewerbe überdauert hatten. Sie waren als Studenten oder in ihren ersten Berufsjahren auch von der Avantgarde um Le Corbusier beeinflusst. Sie schafften in wenigen Wochen die englischen Bauherren von der Idee von insgesamt zwölf scheibenförmigen Hochhäusern zu überzeugen, die alle versetzt zueinander stehen. Sechs Häuser sollten insgesamt 15 Geschosse haben, sechs nur neun. Die Briten sorgten für Material und 15.000 Arbeiter, den ersten Spatenstich gab es am 11. Juli 1946, zum Jahresende waren die Fundamente gelegt. Und dann war plötzlich Schluss.

Grindelhochhäuser: Die Architektengruppe kämpfte um „ihr Projekt“

Als sich Amerikaner und Briten zum 1. Januar 1947 zur Bizone zusammenschlossen und nach Frankfurt/Main gingen, war das „Hamburg project“ gestorben. Was nun? Fast zwei Jahre debattierten Senat, Bürgerschaft und die Architektengruppe zum Teil äußerst leidenschaftlich. Bürgermeister Max Brauer und Oberbaudirektor Gustav Oelsner entschieden sich bereits im März 1948 dafür, auf den zwölf Fundamenten wie geplant Hochhäuser mit Wohnungen sowie Verwaltungsgebäude zu errichten, aber erst im Januar 1949 beschließt die Hamburger Bürgerschaft den Weiterbau. Die Stadt gab 7,8 Millionen Mark für die Fertigstellung der ersten beiden Häuser an der Oberstraße aus.

Der Einfluss der Architektengruppe spielte dabei eine nicht geringe Rolle, sie kämpfte um „ihr“ Projekt. Ein vorbildliches Wohnquartier sollte entstehen. Ein Dorf für sich, mit allen Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Die Architekten entschieden, die Häuser einheitlich in hellem Klinker der Firma Gail aus Gießen zu verkleiden. Bewusst gestalteten sie die zwölf Gebäude mit unterschiedlichen Fassaden. So entstand eine große Einheitlichkeit im Gesamtbild, und dennoch gleicht bei genauem Hinschauen kein Haus dem anderen. „Das Hochhausprojekt am Grindelberg ist eine erste Dokumentation moderner Baugesinnung und auch der erste große Schritt zum Wiederaufbau der Wohngebiete unserer Stadt“, erklärte der Architekt Bernhard Hermkes.

Das Leben in den Grindehochhäusern bot modernen Luxus

Bei der Fleischerei Prösch in der Hallerstraße gab es an jedem Donnerstag frische Leber, es war Schlachttag. Nebenan verkaufte der Milchmann die Milch lose in Kannen, kratzte die Butter aus einem großen Fass. Die Drogerie Dreyer hatte Gummibärchen, die besonders lecker schmeckten, frische Brötchen gab es bei Reinbek. Eine Bank war da, Gemüsemann, Friseur, Café, bürgerliches Restaurant, deutsche Küche natürlich. Sogar ein Radio- und Elektrogeschäft präsentierte hochwertige Unterhaltungselektronik für die wachsenden Geldbeutel der Wirtschaftswunderfamilien. Hier drückte man sich die Nase am Schaufenster platt, als Willy Brandt auf der Funkausstellung in Berlin am 25. August 1967 eine Knopf-Attrappe drückte und damit das Farbfernsehen in Deutschland startete. Plötzlich alles bunt. War toll.

Selbst eine Tiefgarage war vorhanden, auch eine Wäscherei namens „Frauenlob“. Es gab zwei Kinderspielplätze. Der Tabakladen bot kleine Sünden auch für die Kleinen an: Salmilolli zehn Pfennig, Fruchtlutscher fünf Pfennig. Alles für den täglichen Bedarf war zu erhalten, niemand musste das Viertel zum Einkaufen verlassen.

Grünflächen und Teich luden zum Flanieren ein

Licht, Luft und Raum waren wichtig, nur ja keine Enge. Jede Wohnung sollte mindestens eine Stunde Sonne erhalten. Entsprechend stehen die Häuser versetzt parallel zueinander streng in Nord-Südausrichtung mit reichlich grünem Parkgelände dazwischen. Die älteren Bäume, manche übriggeblieben aus der Klosterallee, die ursprünglich hierdurch bis zur Hallerstraße führte, eignete sich hervorragend zum Klettern – und Runterfallen. Auf dem kleinen angelegten Teich hinter dem Bezirksamt Eimsbüttel fütterte man Enten oder ließ Bötchen fahren. Das große Gebüsch vor der Hallerstraße 3 war ideal zum Verstecken und Cowboy- und Indianer-Spielen.

Im April 1950 zogen die ersten Mieter in die ersten Häuser an der Oberstraße. Hier waren die Wohnungen noch klein, ausgerichtet für eine, maximal zwei Personen. Das Postsparkassenamt hatte dort Büros, die „Fräuleins vom Amt“ des Fernmeldeamtes an der Schlüterstraße wohnten hier. Am Grindelberg belegt das Bezirksamt Eimsbüttel immer noch ein ganzes Haus. Früher mit Bücherhallen für Erwachsene und Kinder. Die wurden längst eingespart. Aber es gibt dort ganz oben die Kantine mit der besten Aussicht Hamburgs und vor allem einen Paternoster. Drin bleiben, wenn er oben die letzte Etage passiert oder unten in den Keller eintaucht, das war die Herausforderung, die Mutprobe. Und Nein, man kommt nicht auf dem Kopf stehend oder zerquetscht wieder heraus, ein kleines Wunder.

Richtfest der Grindelhochhäuser fand 1955 statt

In den zuerst fertiggestellten Häusern wurden im Keller noch Baderäume für die Bewohner angeboten, da standen Wannen, die alle nutzen konnten – natürlich nicht gleichzeitig. Erst mit zunehmendem Baufortschritt von Nord nach Süd zur Hallerstraße hin, stiegen Luxus und Quadratmeter.

Das Richtfest im Sommer 1955 für das Gesamtprojekt wird zu einem Symbol auch für den Wiederaufbau Deutschlands. „Es gab damals keine spektakulärere Baustelle in der Bundesrepublik Deutschland“, sagt der unweit der Grindelhochhäuser aufgewachsene Historiker Rainer Nicolaysen für die WDR-Sendung „Zeitzeichen“, „es gab das Gefühl von Urbanität und dennoch Weite.“

Stars und Künstler haben Vorrecht auf Wohnungen

Die neuen Bewohner genossen ungewohnten Luxus. Fließendes Warmwasser, Zentralheizung, alles durch Fernwärme. Einbauküchen. Fahrstühle, natürlich. Zunächst noch ohne Schutztüren innen. Die Wand rauschte vorbei, und wenn man mit den Händen schnell dagegen patschte, gab das die Illusion, man würde den Fahrkorb beschleunigen. Müllschlucker, niemand sollte für seinen Dreck nach unten müssen. Aber pssst, nicht weitersagen: Mit einer ausreichend großen, stabilen Pappe war es ein Leichtes, eine Verstopfung in dem Müllkanal herbeizuführen. Dann musste der Hausmeister mit einem langen Metallstab kommen und den Schmutzstau durch intensives Stochern lösen.

Bei den fertig gestellten Wohnungen hatte die Stadt sich ein Vorrecht einräumen lassen, sie Künstlern anzubieten. So hatten beispielsweise der Grafiker Diether Kressel und der Maler Tom Hops Wohnateliers ganz oben im 14. Stock. Der erste Staatsopernintendant Rolf Liebermann lebte hier, Sänger Carl Bay, Schauspielerin Christa Siems und nach ihrem Exil die Malerin Gretchen Wohlwill, deren Wohnung 1953 die Kulturbehörde vermittelt hatte. Und der Hochhaus-Architekt Albrecht Sander reservierte und plante im Haus Brahmsallee 37 tatsächlich seine eigene Wohnung mit exklusiver Dachterrasse nur für sich. Man kann sie bei Google Earth bestens erkennen.

In den Grindelhochhäusern leben heute noch etwa 300 Menschen

Zwischen den durchbrochenen Schwingen der beiden „Schwäne“ hindurchzuklettern, immer rundherum, wer schafft die meisten Runden ohne den Boden zu berühren? Das war eine der Herausforderungen an die jugendliche Athletik. Die Bronze von Karl-August Ohrt steht seit 1958 beim Teich hinter dem Bezirksamt. Vier weitere Skulpturen moderner Hamburger Künstler wurden in den 50er-Jahren im öffentlichen Raum bei den Häusern aufgestellt.

Der „Eselsreiter“ von Ursula Querner eignete sich hervorragend für Reitübungen. Hatte Winnetou eben einen zweiten Mann hinter sich. 1956 war der gesamte Komplex fertig gestellt, zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich. Deutschlands erste Hochhaussiedlung. Insgesamt 2122 Wohnungen waren es für rund 5400 Einwohner. Zehn Häuser wurden von der gemeinnützigen Saga bewirtschaftet. Überwiegend lebten hier Beamte und besser Verdienende, die sich die Mieterdarlehen leisten konnten. Billig war er nicht, dieser Nachkriegswohnluxus.

In den 80er-Jahren war der Ruf der Siedlung dahin, auch wenn sie 1979 unter Denkmalschutz gestellt wurden. Das erste Haus in der Oberstraße war als „Horrorhaus“ verschrien. Es gab einen Renovierungsstau, den die Saga erst zwischen 1995 und 2006 für 75 Millionen Euro beseitigte und dabei unter anderem die ganz kleinen Wohnungen zu zeitgemäß größeren zusammenlegte. Rund 3000 Menschen leben heute hier, die Grindelhochhäuser sind wieder gefragt. Kult und Kulturdenkmal – und wer weiß, vielleicht fahren eines Tages auch wieder die Stadtrundfahrtbusse an diesem Stein gewordenen Kapitel Hamburger Geschichte vorbei.

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