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"Blind werden müssen"

| Lesedauer: 9 Minuten

Literaturwettbewerb: Hamburger Kult-Autor Gunter Gerlach auf Platz 4 - Lesung am 31. August im Schloss

Was tun, wenn das Elend und die Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht mehr zu ertragen sind? Der Hamburger Kult-Autor Gunter Gerlach (71) wählt für seine Hauptperson einen ungewöhnlichen Weg. "Blind werden müssen" hat er die Kurzgeschichte überschrieben, die die Jury des AstroArt-Literaturwettbewerbs überzeugte. Unter 268 Einsendungen belegt Gerlachs Werk den 4. Platz.

Wie alle anderen Preisträger wird er sein Werk am Sonnabend, 31. August, ab 18 Uhr im Innenhof des Bergedorfer Schlosses vortragen (freier Eintritt). Alle fünf Siegertexte drucken wir zuvor in der "bz".

Ein Auto bremst und hupt, die Reifen quietschen.

"Hast du das gesehen?", fragt Clarissa.

"Was ist passiert?" Ich hebe meinen Kopf nicht. Meine Augen wachsen mir langsam zu.

"Die Autos fahren hier alle zu schnell. Die alte Frau wäre fast überfahren worden."

Clarissa ist klug, klüger als ich. Sie akzeptiert alles, was sie sieht. Ohne Clarissa gehe ich nicht mehr aus dem Haus.

"Die einzelnen Verkehrsteilnehmer stehen im Widerspruch zueinander", sage ich.

Wir gehen in die Buchhandlung, in der ich ein Buch über Blindenschrift bestellt habe. Ich schlage es auf und fahre mit den Fingerkuppen über die aus geprägten Punkten bestehenden Buchstaben. Daneben steht in normaler Druckschrift die Übersetzung.

"Du willst das wirklich lernen?", fragt Clarissa.

"Ich werde es brauchen."

Clarissa nickt und lässt dabei die dunkelroten Locken übers Gesicht fallen und presst die Lippen zusammen. Sie sagt, ich solle dringend zu einem Arzt gehen.

"Soweit ist alles in Ordnung", sagt der Arzt. Er kommt hinter seinen Messinstrumenten hervor. Das Lächeln polstert ihm die Wangen auf.

"Aber warum muss ich dann immer die Augen schließen?"

"Wenn Sie geblendet werden?"

"Alles blendet mich."

"Sie meinen, es ist zu hell oder ..."

Ich wische seine Schlussfolgerungen mit beiden Händen weg. "Nein, nein. Ich sehe zu viel. Gibt es nicht Brillen, die wie Filter funktionieren?"

"Sonnenbrillen?"

"Nein, sie müssten das Sichtfeld begrenzen. Mir würde es genügen, die Hälfte von allem zu sehen. Wissen Sie, alles macht mir Kopfschmerzen."

Der Augenarzt überweist mich an einen Neurologen.

"Was hat er gesagt?", fragt Clarissa. Sie steht am Fenster unserer Wohnung und sieht hinaus. Von der anderen Straßenseite her ist das Quietschen eines Krans zu hören. Ein Haus wird abgerissen.

"Er hat nichts gefunden", sage ich. "Ich muss wohl blind werden."

"Wirklich?" Sie kommt zu mir und umarmt mich und küsst meine Augen.

"Es ist meine Chance, zu überleben."

"Heutzutage kann man doch alles operieren."

Clarissa denkt immer, man ändert ein Detail und alles wird gut. Ich wiege den Kopf hin und her. "Ich muss noch zu einem Neurologen."

"Ich komme mit."

"Geh bitte zurück ans Fenster und erzähl mir, was du siehst."

"Weißt du, dieses alte Mietshaus wird abgerissen."

"Das war doch noch vollkommen in Ordnung."

"Aber auf der gleichen Fläche können vier Wohnungen mehr gebaut werden." Sie beschreibt die Zeichnung des neuen Gebäudes auf dem Bauschild. Es werden alles Luxus-Eigentumswohnungen. Für Menschen, die sich das nicht leisten können, ist kein Platz mehr.

Was ich denke, will Clarissa wissen. Ich sage, dass ich es bedauern werde, sie nicht mehr zu sehen.

Der Arzt will wissen, welche Symptome ich beim Sehen habe.

"Übelkeit", sage ich, "und oft auch Schmerzen im Kopf, genau genommen im ganzen Körper."

"Wie ist es, wenn Sie einen Gegenstand fixieren?"

"Dann mache ich mir Gedanken, warum es ihn gibt, welche Funktion er hat und mit welchem Ziel er hergestellt wurde. Ich bin mit der Wirklichkeit schnell überfordert."

"Und wie ist es, wenn Sie Bilder oder Filme betrachten?"

"Ich begreife das alles und kann es nicht mehr ertragen. Nicht mehr hinzuschauen, erscheint mir als gute Lösung."

Der Arzt zieht ein Papier heran. "Ihre Reflexe sind in Ordnung", sagt er. "Aber es kann natürlich sein, dass ... Wir machen besser eine Computertomographie."

"Es muss an meinem Gehirn liegen", sage ich. "Es kann gar nicht anders sein."

Es wird dunkel draußen. Clarissa macht das Licht an. Sie greift zur Zeitung. "Soll ich dir was vorlesen?"

"Ja, gern."

Sie liest mir einen Artikel über Rüstungsexporte vor. Es wird viel Geld damit verdient. Aber man weiß nicht, was exportiert wird und in welchen Mengen. Alles ist geheim. Ich denke, die Nachbarstaaten der importierenden Länder sollten das doch unbedingt wissen. Aber in dem Artikel wird dieser Schluss nicht gezogen.

"Wie findest du das?", fragt Clarissa.

"Es schön, wenn du mir vorliest." Clarissa kann gut vorlesen. Es ist ein angenehmes Geräusch, fast als würde ich Musik hören.

"Ich finde das mit den Waffenexporten ziemlich gefährlich", sagt Clarissa.

"Waffen töten", sage ich. "Warum muss so etwas überhaupt hergestellt werden."

Clarissa stößt die Luft durch die Nase aus. Ein halbes Lachen. Sie ist in der Wirklichkeit zu Hause.

"Nichts Ungewöhnliches", sagt der Arzt. Er schiebt die Blätter mit dem Schnitt durch mein Gehirn auf seinem Schreibtisch hin und her als wären es Puzzleteile, die nicht zueinanderpassen.

"Finden Sie nicht auch, dass fast alles in dieser Gesellschaft zueinander im Gegensatz steht", frage ich. "Es passt nichts."

Bei dem Arzt bildet sich eine kleine senkrechte Falte über der Nase. Sie hat die Form eines Dattelkerns und jetzt verstehe ich, warum die Knebelknöpfe an seinem Kittel die gleiche Form haben. Das gefällt mir. Er müsste mich verstehen.

"Die Paradoxien sind Prinzip unserer Gesellschaft", sagt er und fährt fort, mich zu befragen: "Sehen Sie manchmal Dinge oder Menschen, die andere nicht sehen?"

"Ich fürchte ja", antworte ich. "Ich sehe einfach zu viel."

"Hören Sie manchmal Stimmen, die andere nicht hören?"

"Ich weiß es nicht. Ich höre viel. Es kommt aus der Nachbarwohnung, von Menschen, an denen ich mit meiner Freundin vorübergehe oder vom Nachbartisch im Café. Es sind immer nur Bruchstücke. Aber aus ihnen geht hervor, dass es anderen Menschen besser geht als mir. Sie sehen nicht alles."

"Und daraus schließen Sie, es wäre besser, blind zu sein?"

"Ja."

Der Arzt lehnt sich zurück. Er blättert in seinen Unterlagen. "Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, was ich mit Ihnen noch machen soll."

Unser Kühlschrank ist nach 15 Jahren kaputt gegangen. Clarissa will los und einen neuen kaufen. Sie hat mir vorgelesen, dass neue Geräte nur noch maximal zehn Jahre halten. Warum baut man sie dann erst?

Ich bleibe lieber zu Hause und lese. Mein Leben ist einfacher geworden. Ich kann jetzt auch beim Lesen die Augen schließen. Braille-Schrift. Lesen ist Sehen mit anderen Augen. Alles wird einfacher. Besser als selber sehen. Kühlschränke, zum Beispiel, die gebaut werden, um kaputt zu gehen.

Clarissa kommt von einer Wohnungsbesichtigung zurück. Sie ruft laut nach mir. Sie berichtet, dass wir umziehen werden. Die Wohnung liegt auf dem Land, hat keine Treppen, über die ich stolpern könnte. Sie ist billiger als unsere jetzige. Aber dafür muss Clarissa, um zu ihrer Arbeit zu fahren oder um einzukaufen, immer das Auto benutzen. Das zusammen kostet dann wieder so viel wie unsere jetzige Wohnung.

"Die Wohnung ist optimal für jemanden, der blind wird."

"Ich bin es bereits."

"Ja, schade. Man sieht den Waldrand vom Wohnzimmerfenster und bei schönem Wetter kann man bis zum Meer sehen."

"Du wirst es mir beschreiben."

Clarissa streicht mir über das Haar, dann nimmt sie meinem Kopf in ihre Hände als wäre er eine große Frucht und küsst ihn. "Ich freue mich darauf, dir alles durch meine Augen zu zeigen."

Sie weiß, dass ich sehen kann, wenn ich will, aber ich will nicht mehr.

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