Hamburg. Für Dr. Oleg Yastrebov ist schwer auszuhalten, was derzeit in seiner früheren Heimat geschieht. Und deshalb mobilisiert der Chefarzt der Klinik für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie am Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg medizinische Hilfe für ein Krankenhaus in Kiew. Der 41-Jährige sammelt Medikamente und Verbandsmaterial sowie medizinische Geräte, die er von einem befreundeten deutsch-ukrainischen Unternehmer in die umkämpfte Stadt bringen lässt.
„Der erste Transport ist schon angekommen, der zweite ist am vergangenen Freitag gestartet und auch gerade angekommen“, sagt der Chefarzt, der die große Hilfsbereitschaft der Hamburger Klinikleitung und seiner Kollegen im Haus lobt. „Die Solidarität auch unserer Kollegen ist sehr groß“, bestätigt Agaplesion-Sprecherin Ute Schlemmer.
Ukraine-Krieg: Hamburger Chefarzt unterstützt in Kiew
Yastrebov kam vor 21 Jahren zum Studium nach Deutschland. Davor hatte er ein halbes Jahr intensiv Deutsch gelernt, denn „mein Schuldeutsch war sehr sehr schlecht, eigentlich habe ich es nie so recht gelernt“, sagt der Mediziner, der in Kiew geboren und aufgewachsen ist. Nach seinem Studium an der Medizinischen Hochschule Hannover machte er seinen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und arbeitete sich zum Oberarzt hoch. „Seit September 2014 bin ich hier in Hamburg tätig“, sagt Yastrebov, der vor allem Füße und Sprunggelenke operiert, „ein sehr spezielles Fachgebiet“. Seit 2017 ist er Chefarzt.
Anfang Februar 2022 war der Mediziner noch zu Besuch in Kiew, um seinen Vater, seine Mutter und seinen Bruder samt Familie zu sehen. „Da wurde schon viel spekuliert, ob die Russen angreifen oder nicht, denn die Truppen standen ja schon seit Oktober an der Grenze.“ Geschichte wiederhole sich, sagt der Mediziner: „Russland hat die Krim ja nach den Winterspielen in Sotschi annektiert, und deshalb sind viele davon ausgegangen, dass sie nach den Winterspielen in Peking eingreifen. Aus diesem Grund war ich drei Tage in Kiew, obwohl ich Angst hatte. Ich habe meine Eltern besucht und befreundete Ärzte.“
„Keiner hat geglaubt, dass Kiew in der Form angegriffen wird“
Yastrebov hat wie viele seiner Landsleute unterschiedliche Wurzeln. Sein Vater ist seinen Angaben zufolge gebürtiger Russe, seine Mutter stammt aus Moldawien, in seinem Elternhaus wurde Russisch gesprochen. Ukrainisch spreche er aber auch. „Aktuell ist es so, dass Ukrainischkenntnisse sehr von Nutzen sind, wenn man dort unterwegs ist. Man wirkt sonst schnell verdächtig“, sagt der Mediziner.
Alle aus seinem Bekanntenkreis und der Familie hätten mit einem Krieg im Donbass gerechnet, Vorräte angelegt, Sprit gebunkert, „aber keiner hat geglaubt, dass Kiew in der Form angegriffen wird“, sagt Yastrebov. Am Tag der ersten Bombardierung vor knapp drei Wochen habe er alle seine Freunde und Bekannten kontaktiert und Hilfe angeboten: „Wenn sie die Möglichkeit haben auszureisen, dann sehen wir hier schon zu, dass wir sie unterbringen.“ Seine Schwägerin wohne jetzt mit ihrem Sohn und ihrer Schwester bei ihm. Ein weiteres Familienmitglied sei bei Freunden von ihm untergekommen. Eine Bekannte aus Kiew sei mit ihren drei Kindern inzwischen angekommen, weitere Bekannte seien unterwegs nach Deutschland. „Die meisten haben gehofft und geglaubt, dass es in ein paar Tagen vorbei ist, es hieß ja immer, es würden nur militärische Ziele angegriffen.“
Im direkten Kontakt mit ukrainischen Ärzten
Die Flucht sei schwierig. „Die meisten Ausfahrten an den Schnellstraßen sind dicht gemacht, an den wenigen Ausfahrten gibt es Militärposten, alle werden kontrolliert. Die Menschen sind nervös, es wird geschossen. Man hat Angst, dass der Sprit ausgeht“, weiß Yastrebov aus Erzählungen.
Die ukrainischen Ärzte, mit denen er im direkten Kontakt sei, habe er beim fachlichen Austausch kennengelernt, als diese in Deutschland hospitierten. Viele hätten inzwischen ihre Familien an die Grenze gebracht und lebten jetzt im Krankenhaus Nummer 7 und in der Mediland-Klinik, weil sie nachts wegen der Sperrstunde nicht zurück in ihre Wohnungen könnten. „Sie arbeiten da, sie schlafen da. Einen Kollegen habe ich noch vor fünf Wochen gesehen. Er sieht jetzt zehn Jahre älter aus, und man hört es auch seiner Stimme an. Er muss jetzt eine Kriegschirurgie machen, die mit normaler Chirurgie nichts zu tun hat. Das ist eine große seelische Belastung.“
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„Meine Kinder sind hier, mein Leben ist hier“
Gleich zu Kriegsbeginn habe er eine erste Lieferung an Medikamenten organisiert, die das Krankenhaus Nummer 7 in Kiew erreicht hat. „Es läuft alles über private Kontakte zu einer großen Firma, die viele logistische Möglichkeiten hat“, sagt der Chefarzt. „Es kann auf dem Weg nach Kiew alles passieren – auch dass der Transport bombardiert wird, aber es läuft alles über private Beziehungen zu Menschen, denen man vertraut. So einfach ist das.“ Die zweite Lieferung mit medizinischen Instrumenten sei am Freitag losgeschickt worden und glücklicherweise auch angekommen. „Da ich ja jeden Tag mit dem Kollegen in Kiew telefoniere, weiß ich, was sie brauchen“, sagt der Hamburger Arzt, der mithilfe der Stiftung netzwerk mensch gGmbH Spenden sammelt. Als Nächstes würden medizinische Geräte benötigt, auch ein Kinderkrankenhaus möchte er versorgen.
Natürlich fühle er sich der Ukraine sehr verbunden, auch wenn er jetzt schon mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland zu Hause sei, sagt der Chirurg, der vor zwei Monaten eingebürgert wurde. „Meine Kinder sind hier, mein Leben ist hier, mit dem ukrainischen Pass konnte ich bei Reisen nicht so flexibel sein“, begründet der Vater von drei Söhnen und zwei Töchtern im Alter von fünf bis 17 Jahren seine Einbürgerung. Er ist mit einer Narkoseärztin verheiratet, die aus Kasachstan stammt. „Sie war Spätaussiedlerin“, sagt der Arzt, der in Niedersachsen lebt, „wir sprechen Russisch zu Hause. Auch mit den Kindern. Ich spreche Russisch mit ihnen, sie antworten auf Deutsch.“ Sein eigenes Deutsch ist akzentfrei, nur an der Satzstellung merkt man gelegentlich, dass er eine andere Muttersprache hat.
Nötige Disziplin durchs Kunstturnen
Nun will der Arzt seiner alten Heimat mit seinen Möglichkeiten zur Seite stehen. „Die Werbung von Hipp, in der es heißt, ,dafür stehe ich mit meinem Namen‘, hat mir immer gefallen“, sagt er. „Wenn wir in der Ukraine lokal helfen, ist es unbürokratischer. Selbst angenommen, Kiew wird bald umkreist, und es geht nichts mehr rein – das Material wird später genauso gebraucht, auch wenn es jetzt nicht ankommen könnte. Früher oder später wird es ankommen“, sagt der frühere Kunstturner, der betont, der Sport habe ihn sehr geprägt: „Er hat mir die nötige Disziplin gegeben.“
Sein Beitrag, die Ukraine zu unterstützen, sei nun die Organisation medizinischer Hilfe. „Jeder sollte so helfen, wie er glaubt, helfen zu können. Wir werden alle einen langen Atem brauchen.“
Oleg Yastrebov will weitere Hilfstransporte organisieren und freut sich über Unterstützung: Empfänger: netzwerk mensch gGmbH, IBAN: DE29 6619 0000 0010 6621 17, Volksbank Karlsruhe Baden-Baden,Verwendungszweck: „ÄrzteNetz Hamburg und netzwerk mensch für die Ukraine“. Spendenbescheinigungen können ausgestellt werden.
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