Hamburger Justiz

Oberste Richterin: „Die Verfahren dauern zu lange“

| Lesedauer: 10 Minuten
Bettina Mittelacher und Peter Ulrich Meyer
Erika Andreß, die scheidende Präsidentin des Oberlandesgerichts, in einem Sitzungssaal.

Erika Andreß, die scheidende Präsidentin des Oberlandesgerichts, in einem Sitzungssaal.

Foto: Marcelo Hernandez / Services

Die scheidende Präsidentin des Hanseatischen Oberlandesgerichts über die Rolle der Justiz und ihre Probleme mit der Bürokratie.

Hamburg.  Drei bunte Blumensträuße stehen auf dem Tisch im Büro von Erika Andreß, der scheidenden Präsi­dentin des Hanseatischen Oberlandes­gerichts (OLG). Am Tag vor dem Besuch des Abendblatts hat sie ihren 67. Geburtstag gefeiert. Am morgigen Freitag wechselt die Juristin nach 13 Jahren an der Spitze der Judikative in den Ruhestand­. Im Interview zieht die OLG-Präsidentin, die auf eigenen Wunsch ihre Amtszeit verlängert hatte, eine mitunter auch sehr persönliche Bilanz.

Hamburger Abendblatt: Frau Andreß, Sie blicken auf 31 Jahre als Richterin zurück. War es Ende der Achtzigerjahre oder ist es heute schwieriger, Richter oder Richterin zu sein?

Erika Andreß: Das Richteramt ist immer hochinteressant gewesen und hat sich Neuerungen stellen müssen. Wir haben auch immer gesellschaftliche Entwicklungen nachempfinden müssen. Ein Unterschied besteht darin, dass die Gerichtsverfahren­ heute sehr viel komplexer sind. Die Lebenssachverhalte sind schwieriger geworden. Wir haben heute sehr große Strafverfahren mit vielen Beteiligten­ in einer Metropole wie Hamburg­, und es gibt andere Formen der Kriminalität, die viel tiefgreifender sind. In Zivilverfahren wird von den Parteien viel mehr vorgetragen, und die Sachverhalte müssen näher aufgeklärt werden.

Sie sind die erste Frau an der Spitze des OLG in seiner gut 120-jährigen Geschichte. Welche Erfahrungen haben Sie als Frau in diesem Amt gemacht?

Andreß: Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel mehr Frauen als Richterinnen eingestellt. Wir sind sehr familienfreundlich, und auch Männer nehmen diese Familienfreundlichkeit wahr. Mir ist wichtig, dass wir ein Richterbild haben, das geleitet ist von Toleranz, Offenheit und Fairness. Dann kommt die Gerechtigkeit von ganz allein.

Können Sie beziffern, wie hoch der Frauenanteil unter den Richtern war, als Sie OLG-Präsidentin wurden, und wie hoch er heute ist?

Andreß: Nein, das kann ich nicht mit Blick auf die früheren Zahlen. Wir haben heute im R1-Bereich bestimmt die Hälfte Richterinnen, im R2-Bereich wächst es, und im R3-Bereich haben wir noch zu tun, aber wir sind gut dabei. Wir sind eines der wenigen Oberlandesgerichte, die im R3-Bereich, also dem Vorsitz eines Senates, seit längerer Zeit auch Teilzeitstellen anbieten.

Welche Vorhaben, die Ihnen bei Amtsantritt besonders wichtig waren, haben Sie umsetzen können?

Andreß: Mir war immer die Personalpolitik sehr wichtig. Wir sind zuständig für die Einstellung und Beförderung von Richtern in der gesamten ordentlichen Gerichtsbarkeit. Jura können die jungen Menschen, die sich bei uns bewerben, davon gehen wir aus. Es kommt in erster Linie auf den Charakter an.

Sie haben einmal gesagt, neben der Geschlechtergerechtigkeit sei Ihnen besonders wichtig, dass in der Richterschaft alle Schichten vertreten seien und nicht nur Akademikerkinder. Haben Sie da etwas bewirken können?

Andreß: Das war mir durchgehend ein großes Anliegen, und es ist uns auch in vielen Fällen gelungen. Unsere Bewerber für den Richterdienst kommen häufig aus einem akademischen Milieu. Aber wir versuchen, uns ganz breit aufzustellen, wobei wir an der Qualität natürlich keine Abstriche machen. Wir sprechen gezielt diejenigen an, die einen anderen Lebenslauf haben, um die Vielfalt der Gesellschaft auch bei den Richtern wiederzufinden.

Sie selbst haben auf dem zweiten Bildungsweg Ihr Abitur nachgeholt und erst nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung Jura studiert. Ist solch eine Biografie sogar ein Vorteil für den Richterberuf?

Andreß: Es kommt darauf an, welche Persönlichkeit man dabei ausgebildet hat. Es ist für viele Bereiche des Richterberufs von Vorteil, wenn man schon mehr Lebenserfahrung hat. Zwingend ist das aber nicht.

Sie haben einmal gesagt, ein Richter braucht Empathie. Warum ist Ihnen das wichtig?

Andreß: Es sind ja Menschen, die vor uns stehen. Wenn wir über Schuld und Unrecht zu entscheiden haben, müssen wir sehen, wer vor uns steht. Urteile müssen unmissverständlich sein, aber sie müssen auch Augenmaß beweisen. Das ist Ausfluss von Empathie. Man darf nicht das Gefühl für die Menschen verlieren, mit denen man es zu tun hat.

Und was haben Sie als OLG-Präsidentin nicht erreicht oder umsetzen können?

Andreß: Das werde ich Ihnen nicht verraten. (lacht) Nur so viel: Ich habe es nicht erreicht, mich in 13 Jahren an Bürokratie zu gewöhnen. Mein Grundsatz ist: So wenig Bürokratie wie möglich, aber davon sind wir noch einiges entfernt. Bei manchen Arbeitsgruppen weiß ich nicht einmal mehr die Namen.

Welchen Reformbedarf sehen Sie in der Justiz?

Andreß: Wir müssen uns immer wieder ansehen, wo es Auswüchse gibt. Die Strafprozessordnung bietet schon die Möglichkeit, Verfahren sehr in die Länge zu ziehen. Das ist für jeden Strafrichter eine hohe Belastung. Es gibt deshalb Überlegungen, das Strafverfahren zu straffen. Einerseits muss den Angeklagten das Recht auf eine effektive Strafverteidigung erhalten bleiben. Andererseits muss man auch sagen, dass es eine Verteidigerlobby gibt, die Veränderungen entgegensteht.

Wie hat sich der Blick auf die Justiz und deren Stellenwert in der öffentlichen Debatte und in der Bevölkerung verändert? Hat das Ansehen des Rechtsstaats gelitten?

Andreß: Das sehe ich nicht so, auch wenn es natürlich Strömungen wie die Reichsbürger gibt, die den Staat insgesamt ablehnen. Deshalb ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung auch mehr zum Thema geworden. Wir sind als Richter­ aber auch offener geworden und stellen uns der Kritik. Die Justiz ist es wert, dass man sich mit ihr beschäftigt. Ich sehe auch die Rolle der Medien heute anders. In den vergangenen Jahren sind wichtige Ermittlungen durch die Recherchearbeit­ der Medien in Gang gekommen­. Das finde ich sehr gut. Eine gewisse Gefahr sehe ich in der Boule­vardisierung der Berichterstattung. Als Gefahr weniger für uns Richter, wir werden­ unsere Arbeit schon gut machen, aber als Gefahr für die Prozessbetei­ligten, die an den Pranger gestellt werden.

Hat diese Tendenz wirklich zugenommen, oder gab es das nicht schon immer?

Andreß: Es hat zugenommen, auch weil wir eine andere Medienwelt haben. Früher spielte sich alles nur im Gerichtssaal ab. Heute hat sich die Berichterstattung auch auf die Flure davor verlagert, und die Beteiligten äußern sich auch mehr gegenüber Medien.

Viele beklagen zu lange Gerichtsverfahren – auch in Hamburg. Gerichte und Staatsanwaltschaften werden derzeit um rund 200 Stellen gestärkt. Reicht das aus?

Andreß: Die Verfahren dauern auch aus meiner Sicht zu lange. Das ist eine Bürde und Last aus früheren Jahren, eine schwierige Lage für uns, weil sich die Altfälle nicht so schnell abbauen lassen. Heutzutage ist auch die Echtzeit-Erwartung immer verbreiteter: Die Bürger kommen mit einer Klage und möchten morgen das Urteil haben. Dieser Erwartung werden wir nicht gerecht werden können. Insgesamt stehen wir im Moment personell nicht so schlecht da, aber es werden auf uns neue wirtschaftliche Herausforderungen zukommen.

Das heißt, Sie rechnen mit Kürzungen im Justizbereich infolge der Pandemie?

Andreß: Ich rechne damit, dass auch die Justiz ihren Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts leisten muss. Ich hoffe sehr, dass die beiden anderen Gewalten – Senat und Bürgerschaft – gut zu uns sein werden und die Erfordernisse der Justiz im Blick behalten.

Welche Ihrer Gerichtsentscheidungen ist Ihnen besonders wichtig?

Andreß: Ich kann keine einzelne Entscheidung nennen. Ich finde große Wirtschaftsverfahren interessant, aber das wird immer überlagert von Verfahren, in denen es um ein kleines Kind geht, das irgendwo ist, wo es nicht sein soll. Die großen Augen eines misshandelten Kindes – das sind Entscheidungen, die einem besonders nahegehen.

Gibt es Entscheidungen, mit denen Sie im Nachhinein hadern?

Andreß: Nein, manchmal hat man später andere Erkenntnisse. Wir nehmen uns die Zeit, sorgfältig zu arbeiten. Manchmal hat sich die Welt aber anders entwickelt, und es stimmt, dann hadert man damit im Nachhinein doch. Manchmal kommt einem später auch noch ein wichtiger Gedanke, den man gern früher gehabt hätte.

Welche Qualitäten sollte Ihr Nachfolger vor allem mitbringen?

Andreß: Er soll alles so gut machen wie ich (lacht). Er soll natürlich in erster Linie den Rahmen dafür erhalten, dass wir eine tolerante, faire und offene Rechtsprechung haben.

Landgerichtspäsident Marc Tully wird mit ziemlicher Sicherheit Ihr Nachfolger. Die richtige Wahl?

Andreß: Ich habe meinen Vorschlag gemacht.

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Sie gehen morgen in den Ruhestand. Was machen Sie ohne Justiz?

Andreß: Ich werde es genießen, wenn ich keine schlaflosen Nächte mehr habe.

Ihr Leben war arbeitsreich, das muss nun anders gefüllt werden.

Andreß: Ich habe sehr viele Interessen, und wir haben eine sehr schöne Bibliothek.

Aber es gibt keinen Plan, ein juristisches Grundsatzwerk zu schreiben?

Andreß: Das möchte ich niemandem antun.

Verfolgen Sie noch Fußball? Sie waren mal Fan von Bayern München und wechselten zu Borussia Dortmund. Wem gilt Ihre aktuelle Sympathie?

Andreß: Natürlich den Bayern, auch wenn mein Interesse für den Fußball etwas abgeschwächt ist. Außerdem ist es doch so: Wenn Ronaldo und Messi dann auch irgendwann in den Ruhestand gehen, was soll ich mir dann noch angucken?

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