Die Woche im Rathaus

Rot-Grün ringt um Kurs gegen Corona-Cornern

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Peter Ulrich Meyer
Eng beieinanderstehen und feiern – das soll es auch auf dem Schulterblatt nicht geben.

Eng beieinanderstehen und feiern – das soll es auch auf dem Schulterblatt nicht geben.

Foto: action press

Für die Feiernden im Schanzenviertel und auf dem Kiez gilt eine letzte Warnung. Danach drohen Alkoholverkaufsverbote.

Hamburg. Gegen Ende der Woche war der koalitionäre Frieden wiederhergestellt – und zwar so, dass alle Beteiligten behaupten würden, er sei nie gefährdet gewesen. Sozialdemokraten und Grüne hatten sich auf eine Sprachregelung verständigt, was im politischen Krisenmanagement in jedem Fall von zen­traler Bedeutung ist. Nein, es habe keinen Zwist zwischen der Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD), die einen forschen Kurs forderte, und der eher zurückhaltenden Altonaer Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne) gegeben. „Wir unterstützen die Bezirke darin, zu tun, was nötig ist“, hieß es fürsorglich aus der Sozialbehörde. Im Übrigen habe man jetzt eine gemeinsame Lösung gefunden, wie mit dem Pro­blem umzugehen sei. Jedenfalls kurzfristig.

Das Problem, um das es ging und geht, wirkt auf den ersten Blick eher überschaubar, offenbart aber bei genauerem Hinsehen Tücke und Komplexität. Hunderte Menschen hatten am vergangenen Wochenende vor allem im Schanzenviertel, aber auch auf St. Pauli „gecornert“, wie es so schön Neudeutsch nach dem englischen Wort für Ecke heißt. Die zumeist jungen Menschen standen auf Bürgersteigen und Straßen, tranken Alkohol und scherten sich kein bisschen um die Abstandsregeln und das Verbot, sich zu mehr als zu zehnt öffentlich zu versammeln – Corona hin oder her.

Melanie Leonhard präsentierte zwei Lösungswege

Anders als auf St. Pauli, wo die Polizei in der Nacht zum Sonntag die Große Freiheit gleich zweimal gewissermaßen wegen Überfüllung geschlossen hatte, griff die Staatsmacht in der Schanze nicht ein. Eine polizeiliche Sperrung oder gar Räumung des Schulterblatts im Angesicht der Roten Flora hätte – anders als auf dem Kiez mit seinem überwiegend touristischen Publikum – wohl schnell zu Gegenwehr der Szene und möglicherweise zu heftigen Krawallen geführt. Die Neigung zu politischem Harakiri dieser Art ist im rot-grünen Senat bekanntlich nicht vorhanden. Außerdem wirkten die schweren Auseinandersetzungen zwischen jungen Menschen und der Polizei in Stuttgart und Frankfurt noch warnend nach.

Aber die Bilder der scheinbar in coronaseliger Sorglosigkeit feiernden Menschen waren den führenden Koalitionären zum Wochenbeginn überaus präsent und wirkten ihrerseits bedrohlich, was die mögliche Ausbreitung des Virus angeht. Ballermann ließ grüßen … Es war die neue Gesundheitssenatorin Leonhard, frisch aus dem Urlaub zurück, die in der Vorbesprechung zur Sitzung des Senats am Dienstag das Problem benannte und ohne Umschweife eine Lösung forderte. Schließlich war das nächste Wochenende nicht weit.

Leonhard präsentierte zwei Wege: Zum einen könne der Senat einen Beschluss fassen, der es den Bezirken erlaubt, im Rahmen einer Allgemeinverfügung in eigener Regie Alkoholverkaufsverbote für einzelne Straßenzüge und zeitlich befristet zu erlassen. Das ist eine Art Risikoabwehr, die das Infektionsschutzgesetz ermöglicht. Zum anderen könnten als mildere Maßnahme Polizeibeamte das Geschehen am Wochenende verschärft vor Ort kontrollieren und die Schließung einzelner Kioske durchsetzen, falls es in deren Umfeld zu großen Ansammlungen komme. Das ist die Variante, die ausdrücklich einschließt, es zunächst auch noch einmal mit guten Worten zu versuchen und auf die Einsicht der Beteiligten zu setzen.

Thematik wurde offensichtlich nicht kontrovers diskutiert

Leonhard hatte eine gewisse Sympathie für das striktere Vorgehen per Allgemeinverfügung erkennen lassen, was wohl dem urlaubenden Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) recht gewesen wäre. Schließlich registrieren die Gesundheitsämter gerade in dieser Woche nach langer Zeit wieder einen deutlichen Anstieg der Infektionszahlen – ein Hotspot im Schanzenviertel mit vielen neuen Fällen käme da extrem ungelegen.

Im Kreis der Senatoren und Senatorinnen wurde die Thematik offensichtlich nicht kontrovers diskutiert. Die anschließende, eigentliche Senatssitzung erstreckte sich über die rekordverdächtig kurze Zeit von nur zwei Minuten und 15 Sekunden. Einziges Thema der vom (dienst-)ältesten Senatsmitglied, Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD), geleiteten sommerlich dezimierten Runde war der Bericht der Senatorin für Gleichstellung für die Jahre 2017 bis 2020, der der Bürgerschaft zugeleitet werden sollte. Weil die Gleichstellungssenatorin, die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne), ebenso im Urlaub war wie Tschentscher, musste Stapelfeldt, die dem Senat seit 2011 angehört, die Sitzung leiten, so will es die Geschäftsordnung des Senats.

Politik nach dem Prinzip „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“

Vielleicht war es so, dass die üblichen Kommunikationskanäle wegen der Sommerpause etwas herabgedimmt und die sprichwörtlichen kurzen Wege wegen Abwesenheit etlicher Akteure nicht begehbar waren, sodass die Entscheider im Senat, den zuständigen Behörden und den Bezirken nicht immer wussten, was gerade jeweils Sachstand war. Vielleicht waren es auch einfach zwei Politikstile, die aufeinandertrafen. Jedenfalls waren nicht alle sofort auf Kurs, und es knirschte zwischenzeitlich durchaus im rot-grünen Koalitionsgebälk.

Kiez erwacht aus dem Corona-Schlaf:

Kiez erwacht aus dem Corona-Schlaf
Kiez erwacht aus dem Corona-Schlaf

Bedenken gegen ein allzu forsches Vorgehen, sprich die Möglichkeit, den Alkoholverkauf von vornherein für ganze Straßenzüge zu sperren, kamen aus dem Bezirk Altona, der für den größten Teil des Schanzenviertels zuständig ist. „Ich habe nichts gegen das Cornern und finde es schön, wenn es Orte gibt, wo Menschen feiern können“, sagt die Altonaer Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne), setzt jedoch hinzu: „Im Schanzenviertel lief es aber komplett aus dem Ruder.“ Von Berg sah also durchaus auch den Handlungsdruck, sorgte sich aber zum Beispiel darum, dass es keinen einheitlichen Kurs der Stadt mehr geben könnte, wenn die Bezirke eigenständig über Alkoholverkaufsverbote entscheiden. Zudem könnte der Senat die Delegierung der Verantwortung auf die Bezirke schnell wieder zurücknehmen, falls die Infektionszahlen deutlich nach oben schnellen sollten. Manch einer sieht darin eine Politik nach dem Prinzip „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“.

Polizei will verstärkt kontrollieren

Vielleicht schwingt auf grüner Seite auch ein wenig die Sorge mit, ein allzu rigides Vorgehen könnte Erinnerungen an den früheren Ruf als „Verbotspartei“ wachrufen. Aufseiten der Sozialdemokraten gibt es in dieser Hinsicht weniger Bedenken. Leonhard weist im Abendblatt-Interview (siehe Seite 14) jedenfalls darauf hin, dass sich die Feiernden im Schanzenviertel unsolidarisch gegenüber denjenigen verhalten, deren Existenz durch die Pandemiefolgen bedroht ist, weil sie die Rücknahme von Lockerungen riskieren.

„Es wird helfen, wenn wir alle mal an einem Tisch sitzen und uns über die Probleme und Sichtweisen unterhalten“, hatte von Berg Mitte der Woche gesagt. Letztlich einigten sich der Senat und die betroffenen Bezirke auf ein abgestuftes Vorgehen. An diesem Wochenende werden Polizeibeamte und Mitarbeiter der Ordnungsämter im Schanzenviertel verstärkt kontrollieren, ob die Menschen gegen das Abstandsgebot verstoßen und in diesem Fall auch einzelne Alkoholverkaufsverbote aussprechen, wenn gutes Zureden nicht hilft.

Aus Sicht der Opposition reagiert der Senat zu langsam

Am Dienstag steht dann der Senatsbeschluss über die Schaffung einer Allgemeinverfügung auf der Tagesordnung. Melanie Leonhard geht davon aus, dass der rot-grüne Senat entscheiden wird, den Bezirken dieses striktere Mittel an die Hand zu geben. So gesehen ist die Einzelfallkontrolle, die es an diesem Wochenende geben soll, eine letzte Warnung – wenn das Wetter Cornern denn überhaupt reizvoll erscheinen lässt.

CDU-Oppositionschef Dennis Thering zeigte wenig Verständnis für das rot-grüne Vorgehen. „Tatsächlich hätte der Senat längst die rechtlichen Möglichkeiten dafür schaffen müssen, um solche Auswüchse schon im Ansatz zu verhindern. Eine neue Allgemeinverfügung zum Außer-Haus-Verkauf von Alkohol ist der richtige Weg, aber eine Begrenzung ab 22 Uhr ist viel zu spät, da ist das Cornern dann meist schon im vollen Gange“, sagte der CDU-Bürgerschaftsfraktionschef. Seiner Ansicht nach sollte das Verkaufsverbot bereits ab 20 Uhr gelten. „Szenen wie am vergangenen Wochenende in der Schanze, in Ottensen und auf dem Kiez, mit Hunderten feiernden Menschen ohne Einhaltung des Mindestabstands, dürfen sich nicht wiederholen“, sagte Thering.

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Im Übrigen ist auch die Problematik des Cornerns grundsätzlich noch nicht gelöst. Aus Sicht der Kneipen- und Clubbetreiber ist das Beisammenstehen mit mitgebrachten Getränken geschäftsschädigend – das gilt nicht nur für das Schanzenviertel, sondern erst recht auch für St. Pauli. Falko Droßmann (SPD), Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte, zu dem auch der Kiez gehört, ist da im Interesse der St.-Pauli-Geschäftsleute für einen rigiden Kurs. Es könnte also sein, dass bei dem Thema des Cornerns nicht nur zwei Politik-, sondern auch zwei Lebensstile im rot-grünen Bündnis aufeinanderprallen.

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