Pilotprojekt

Warum Hamburg seine Insekten untersucht

| Lesedauer: 6 Minuten
Ein Blick in die Ausbeute
von einer
Woche Pilotmonitoring:
Mauerfuchs
(der große Falter)
und eine Wespe sind
mit bloßem Auge zu
erkennen.

Ein Blick in die Ausbeute von einer Woche Pilotmonitoring: Mauerfuchs (der große Falter) und eine Wespe sind mit bloßem Auge zu erkennen.

Foto: Marcelo Hernandez / HA

Genaue Erhebungen fehlen. Universität und Umweltbehörde erforschen daher, wie es um die Insekten der Stadt bestellt ist.

Hamburg. Als Torsten Demuth das Insektengrab öffnet, riecht es nach Putzmittel und Kneipe. Süßlichen Todesduft verströmt der weiße Behälter mit der durchsichtigen Flüssigkeit jedenfalls nicht. Dabei ist das runde Gebilde nun schon seit einer Woche die Endstation für alles Kriechende und Fliegende, vormals verheddert im zeltartigen Netz darunter. Aber wer für die Hamburger Wissenschaft stirbt, stirbt offenbar geruchsneutral. Die Insekten verenden in einer speziellen Alkohollösung.

Torsten Demuth, ein 44 Jahre alter Mann mit Kapuzenpulli und ruhigem Händchen, ist dabei Sterbe- und Geburtshelfer zugleich. Denn während der Bund in Zeiten des weltweiten Artenschwunds noch ein landesweites Insektenmonitoring plant, hat Hamburg am Energieberg Georgswerder bereits mit einer Untersuchung der heimischen Kerbtiere begonnen. Dafür leert Hobby-Insektenforscher Demuth seit April jeden Montag die Fallen an der ehemaligen Mülldeponie im Süden der Stadt. Mit viel Akribie sammelt er tote Käfer, Falter und Mücken ein, um das von der Umweltbehörde und der Universität initiierte Pilotprojekt zum Gelingen zu bringen. Es soll Aufschluss über Vielfalt, Anzahl und Zusammensetzung der Hamburger Insekten geben, um den Biodiversitätswandel in der Großstadt besser zu verstehen.

Zum Insektenfang gehören klangvolle Namen

Mit großer Ruhe friemelt Neigungsentomologe Demuth dafür die Abdeckung vom Gefäß, wirft einen ersten Blick in die hochprozentige Lösung und begutachtet den darin schwimmenden, dunklen Klumpen. Haarige Minibeine, Flügel und ein paar Fühler kommen zum Vorschein, der Rest ist eine unübersichtliche Masse, die später sorgfältig gewogen, dokumentiert und untersucht werden muss. Eine Wespe, ein Mauerfuchs und etliche Diptera, also Fliegen, sind mit bloßem Auge zu erkennen. Ein Kleingetierhaufen, der größte Bedeutung für die Wissenschaft hat.

Als artenreichste Gruppe aller Lebewesen hat sowohl die Anzahl als auch die Vielfalt der in Deutschland lebenden Insekten abgenommen. Weil Blütenbestäuber von zentraler Bedeutung für den Menschen sind, am Boden lebende Tiere den Nährstoffhaushalt beeinflussen und etliche Insekten anderen Tieren als Nahrung dienen, sei dieser Rückgang laut Experten dramatisch. Dabei verzeichnet das Bundesamt für Naturschutz (BfN) nicht nur bei den besonders in den Fokus gerückten Bienen einen Schwund. Die Hälfte der 33.000 heimischen Insektenarten sei betroffen, etwa Zikaden, Köcherfliegen oder Laufkäfer. Die Gesamtbiomasse der Flug­insekten sei in 25 Jahren um 76 Prozent gesunken, große Schmetterlinge haben die Hälfte ihres Bestands eingebüßt.

Welche und wie viele Schmetterlinge, Heuschrecken und Bienen in Hamburg leben, ist (noch) nicht bekannt. Im Gegensatz zu landwirtschaftlichen Flächen, auf denen Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden, können Städte aber auf kleinstem Raum einigen Arten Rückzugsgebiete bieten. Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, sind Männer wie Demuth im Einsatz. Etwa 1000 Insektenarten, schätzt er, hat er in den vergangenen sechs Monaten am Energieberg eingesammelt. Unter anderem so klangvolle Namen wie das Sechsfleck-Widderchen, einen giftigen Nachtfalter, oder den Nierenfleck-Zipfelfalter, eine in Hamburg durchaus selten gewordene Art. Je nach Witterung und Jahreszeit fand Demuth mehr oder weniger Individuen. Höchstwert waren im Mai 56 Gramm Insektenmasse in nur einer Falle. Heute, Mitte Oktober, werden es am Ende nur gut acht Gramm sein.

„Es fehlt an umfassenden Studien“

Wer diese vermeintlich abseitige Untersuchung belächelt, verkennt womöglich die Lage, wie Matthias Glaubrecht, Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak) der Universität, sagt: „Es fehlt an umfassenden Studien, die uns verlässliche Daten zu immer häufiger zu beobachtenden Bestandsrückgängen in der Tierwelt geben.“ Die kontinuierlichen Erhebungen auf dem Energieberg würden helfen, Ursachen dieses Wandels der Artenvielfalt zu verstehen und der Politik Fakten für mögliche Schutzmaßnahmen zu liefern. Denn: „Der zu beobachtende massive Rückgang ist äußerst alarmierend. Mit den verschwindenden Arten gehen auch ihre ökologischen Funktionen unwiederbringlich verloren.“ Diese Biodiversitätskrise stelle neben dem Klimawandel die gesellschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts dar.

Der Versuchsaufbau auf der renaturierten Mülldeponie ist gemessen daran geradezu bescheiden und relativ dezent. Sechs Barber-Fallen genannte Boden­behälter für Käfer sind installiert worden. Zwei Zeltfallen, benannt nach dem schwedischen Forscher René Malaise, komplettieren den Untersuchungsaufwand mit Netzen für die flugfähigen Insekten. Geeignet ist der Hügel in Georgswerder aus zweierlei Gründen. Zum einen gilt er unter Insektenforschern als Pionierstandort, das heißt: Wenn sich neue Arten in Hamburg ansiedeln, dann oft auf den sonnenbeschienenen Flanken des Energiebergs. Zum anderen besitzt er wertvolle Biotope mit seltenen Pflanzenarten, in denen bedrohte Arten wie die Westliche Beißschrecke leben. Zudem bleiben die Lebensräume auf der ehemaligen Deponie relativ konstant. Damit erlaube das Monitoring Rückschlüsse auf Klima- oder Schadstoffbelastung.

Insekten von größter Bedeutung

Die Idee für die Bestandsaufnahme entstand beim Langen Tag der Stadtnatur 2017. Aus der punktuellen Wochenendforschung für jedermann sollte eine Langzeitbetrachtung werden. Das CeNaK und die Umweltbehörde kooperieren deshalb nun mit dem Verein Neuntöter, dem Torsten Demuth angehört. „Die Bürgerforschung ist ein Schwerpunkt in unserer Vereinsarbeit.“ Praktisch heißt das: Er sammelt ehrenamtlich die Proben, wiegt und dokumentiert. Die Wissenschaftler des CeNak konservieren, bestimmen und archivieren – etwa im Zuge von Master- oder Doktorarbeiten. Die Umweltbehörde unterstützt das Projekt.

„Gerade die Insektenpopulation ist für viele Ökosysteme von größter Bedeutung. Deshalb haben wir mit dem Naturschutzprojekt ‚Natürlich Hamburg‘ Deutschlands größtes Vorhaben dieser Art in einer Großstadt auf den Weg gebracht“, sagt Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne). „Ich freue mich deshalb sehr über die Kooperation zwischen dem CeNak und der Umweltbehörde.“ Sie biete einen symbiotischen Mehrwert für die Artenvielfalt.

Nachdem Torsten Demuth alle Fallen auf dem Energieberg geleert hat, lässt er die Flüssigkeit von den gefangenen Insektentropfen, wiegt die Biomasse und fummelt mit einer Pinzette die ersten Fundstücke heraus. Sein Spezialgebiet sind Falter. Deshalb erregen ein Mauerfuchs und drei Feuerfalter sein besonderes Interesse. Es mögen nur kleine Teile im großen Ganzen sein. Aber wie wichtig diese winzigen Teile sind, wird vielleicht erst deutlich, wenn ihre Existenz in alkohol- und essiggetränkten Insektenfallen vermisst wird.

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Hamburg

Aussterbende Tierarten gefährden unsere Lebensmittelversorgung
Aussterbende Tierarten gefährden unsere Lebensmittelversorgung