Anton Reicha

Der Komponist, der Hamburg hassen lernte

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Joachim Mischke
Der
böhmische
Komponist
Anton Reicha
(1770–1836)

Der böhmische Komponist Anton Reicha (1770–1836)

Foto: nn

Zeitgenossen verehrten Haydns Weggefährten Anton Reicha, der fünf harte Lehrjahre in der Hansestadt verbrachte.

Hamburg.  Anton wer!? Unter den Komponisten, die es ins kollektive Musikgedächtnis dieser Stadt geschafft haben, wird man Anton Reicha vergeblich suchen. Fair ist das, wie so vieles hier in dieser Hinsicht, eher nicht. 1836 in Paris gestorben. 1770 in Prag geboren, im selben Jahr wie Beethoven, mit dem er im Kurfürstlichen Hoforchester in Bonn musizierte (Reicha zweite Flöte, Beethoven Bratsche), an der Universität studierte und mit dem er sich anfreundete. „Reicha hat Hamburg gehasst“, meinte der Pianist Ivan Ilic, er urteilte aber auch: „Hier war seine kreativste Zeit, sein Labor. In Paris wurde er viel konventioneller.“

Größere Karriere machte Reicha erst später, zunächst in Wien – dort wurde er ein Freund des großen Haydn – und vor allem in Paris, zu seinen Kompositionsschülern am Konservatorium zählten Liszt, Berlioz, Gounod oder Franck; als Theoretiker war er hochverehrt. Berlioz, der nicht schnell begeistert von anderen war, schrieb orakelnd, es gäbe Stücke von Reicha, die von größter Bedeutung für die Geschichte der Musik seien. Kein kleines Licht war er, doch eben auch kein Star. Eine Zwischengröße.

Prag, Bonn, Paris

Eben dieser Reicha, der in Frankreich und als Komponist von Holzbläser-Kammermusik bekannter ist als hierzulande, verbrachte von 1794 bis 1799 Lehr-, aber noch keine Herrenjahre in Hamburg. Wie vor ihm Händel als Talent an der barocken Gänsemarktoper, wie Jahrhunderte nach ihm die Ur-Bea­tles als ungeschliffene Diamanten in den Clubs rund um die Reeperbahn. Im Gegensatz zu ihnen wurde Reicha hier nicht einmal zur Fußnote. Er verschwand, wie er auftauchte, unbekannt verzogen.

Nun aber kommt – am heutigen Freitag auch mit einem Konzert in Hamburg – der amerikanisch-serbische Pianist Ivan Ilic ins Spiel. Liest man Ilics Lebenslauf, schält sich aus der Dokumentation seiner Karriere der Eindruck heraus, hier mag jemand keine Hauptstraßen für Publikumslieblinge, sondern bevorzugt steinigere Repertoire-Umwege: CDs mit Godowskys virtuosen Linke-Hand-Studien über Chopin-Etüden, eine Trilogie mit der reduzierten Musik des US-amerikanischen Eigenbrötlers Morton Feldman im Zentrum. Ilic dreht Musikfilme, schreibt für britische Fachzeitschriften und macht Radiosendungen in der Schweiz.

Vierteilige Kurzdokumentation

Und jetzt, fünf CDs mit Ausgrabungen sollen es in den nächsten Jahren werden, eben jener Reicha, über den im Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“, einer heiligen Schrift der Musikwissenschaft, zu lesen ist: „Die Bedeutung seiner Persönlichkeit in seiner Zeit ist bis heute nicht genügend gewürdigt worden.“ Tja. Etliche Ersteinspielungen sind nun von Ilic zu hören, exklusiv für Apple Music hat Ilic auch noch eine vierteilige Kurzdokumentation gedreht, er ist dort auf musikalische und biografische Spurensuche gewesen, wo Reicha lebte und arbeitete. Jede Menge Entdeckenswertes, wenn man Überraschungen liebt und sich fragen möchte: Wen gab es sonst noch so neben den ganz Großen? Was war da los? War Reicha wirklich so gut – oder nur komplett überhört?

Zum ebenso wichtigen wie tragischen Lebensabschnitt von Reicha in Hamburg gehört auch, dass es keine nur schöne Zeit war. Wo er wie wohnte, ist nicht bekannt; aus seinen Schriften weiß man nur, dass er sich als Harmonie- und Klavierlehrer über Wasser hielt und wohl sehr isoliert lebte. Freies Feld für zukünftige Forschung. In seiner Autobiografie seufzte Reicha jedenfalls frustriert über die Hansestadt: „Sie hat mit ihren vielen Kanälen, feucht und häufig im Nebel, kein günstiges Klima für Fremde.“ Eine Nahrungsumstellung bescherte ihm mehrwöchiges Fieber und danach rasende Zahnschmerzen. Künstlerpech satt.

Hamburg hatte den Ruf einer Kulturmetropole

Eine möglicher Grund für den Umzug vom Rhein an die Elbe: Hamburgs Ruf als Kulturmetropole, ein Künstler-, Virtuosen- und auch Komponistenmagnet. Hier könnte der junge Reicha gehofft haben, als aufstrebender Opernkomponist groß rauszukommen. Es blieb allerdings beim Wunsch, denn die Stücke, die hier entstanden, blieben ungebucht in der Schublade. Dort lagen Perlen wie „Der Eremit auf Formentera“ und „Obadi ou les Français en Égypte“ neben vielen fantasievoll ausgereizten Klavierkompositionen, die erst später andernorts veröffentlicht wurden.

Die aparteste Idee war seine „Fantasie sur un seul accord“, in der er minutenlang mit den drei Noten eines einzigen Akkords jonglierte – weil er es konnte. „Er zeigte, wie viel er aus sehr wenig machen konnte“, fand Ilic. Reicha schrieb raffinierte Fugen, obwohl die zu seiner Zeit schon als gestrige Fingerübungen galten. Anderthalb Jahrhunderte vor Dave Brubeck in „Take Five“ komponierte Reicha im Fünfertakt; ein anderes seiner Stücke lässt sich vorwärts wie rückwärts spielen.

Missionarischer Eifer

Auslöser für seine Reicha-Begeisterung waren die Fugen op. 36, über die Ilic in Fachbüchern gelesen hatte. „Sie sind so gut, dieser Humor, diese Überraschungen ... Unmöglich, dass jemand, der in jungen Jahren solche Musik schuf, etliche Stunden Klaviermusik schrieb, ohne dass etwas wirklich Gutes dabei herauskam.“ Das schien auch Beethoven als aufmerksamem Beobachter nicht entgangen zu sein: Der sei eindeutig eifersüchtig gewesen, meint Ilic. Reichas Fugen-Opus 36 erschien 1802, zeitgleich mit Beethovens Eroica-Variationen, die mit einer Fuge enden. „Beethovens Fugen in dieser Zeit waren oft noch ungelenk, sie flossen nicht so wie bei Haydn oder Mozart. Und Reicha kam mit den Fugen-Bauanweisungen besser klar.“

Diese Reicha-Begeisterung und der missionarische Eifer, den Ilic verspürte, sprangen nicht sofort auf alle anderen über. Reicha pur sei Konzertveranstaltern schwer zu vermitteln, erzählt Ilic, erst im Team mit seinen Zeitgenossen Haydn und Beethoven ginge es besser. Viele würden sagen: Nun ja, wenn Reicha so unbekannt ist, wird das schon seine Gründe haben. Für Ilic ein Pro­blem, aber kein Hindernis, denn die Musikarchive sind bekanntlich immer noch voller ungehobener Schätze.

Wo Reicha einsortieren auf einer Zehnerskala, mit dem grundsoliden Mannheimer Kleinmeister Stamitz als Eins und dem späten Beethoven als geniale Zehn? Da muss Ilic zunächst lachen, doch die Antwort ist nicht ganz einfach: „Reden wir dann über nur die absolut besten Stücke eines Komponisten? Für mich sind die besten Stücke von Reicha ziemlich nahe an Haydn. Und das ist schon ziemlich hoch. Also etwa eine Acht. Und: Man muss diese Musik sehr überzeugend spielen.“ Kategorischer ausgedrückt: „Weder Sie noch ich wissen momentan genug über diesen Komponisten und diese Musik. Beethoven hören wir pausenlos, seit 250 Jahren. Dutzende Bücher, Filme. Er ist ein Mythos, kein Komponist. Ist Mozart besser als Beethoven? Ich fälle solche Urteile nicht gern. Wir hören vieles davon zum ersten Mal. Es ist noch zu früh.“ Was auch meinen soll: Es ist nach all der Ignoranz noch nicht zu spät für Anton Reicha.

Konzert: Fr 25.5., 20 Uhr, Klangmanufaktur, Wendenstraße 255. Werke von Haydn, Beethoven, Reicha. Eintritt frei, Spende erwünscht.

CD: Ivan Ilic:ć „Reicha Rediscovered, Vol. 1“ (Chandos)

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