Hamburg 1945: Kohlenklau und 1200 Kalorien am Tag

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Serie - Schicksalsstunden der Stadt: Uwe Bahnsen und Kerstin von Stürmer beschreiben die materiellen Nöte der Menschen

Die Eröffnungsfeier für den gesamten Schulbetrieb der Hansestadt fand in der Aula der Schule Graudenzer Straße in Wandsbek statt. Schulsenator Heinrich Landahl (SPD) bekannte in seiner Begrüßungsrede: "Schulverwaltung und Militärregierung haben mit aller Kraft daran gearbeitet - es ging nicht eher." Die Jungen und Mädchen ermahnte er: "Ihr müßt anständig und wahrhaftig sein und immer hilfsbereit. Ihr sollt wissen, daß nicht ihr allein recht habt. Ihr müßt lernen, auch das zu achten, was andere meinen. Ihr sollt wissen, leben heißt dienen und arbeiten für andere. Das allein macht den Menschen glücklich. Denkt daran, daß ihr euren Eltern das schwere Leben erleichtern müßt. Nur ihr könnt das fertigbringen. Ihr seid in Tausenden von Fällen ihre einzige Freude. Viele eurer Väter sind noch immer nicht aus dem Kriege zurückgekehrt. Von manchen wissen wir, daß sie nie zurückkommen werden. Eure Mütter sind einsam und verlassen. Alle Sorgen müssen sie ganz allein tragen, und die Sorgen sind viel größer als früher. Ihr ganz allein könnt sie noch glücklich machen. Laßt sie stolz sein auf euch, wenn ihr gut lernt. Helft eurer Mutter, wo ihr könnt, nehmt ihr froh und gern Wege und unangenehme Arbeiten ab. Seid gut und herzlich zu ihr . . ." Diese Kinder wuchsen unter Verhältnissen auf, wie sie ärmlicher nicht sein konnten. Mangelhafte Ernährung und Bekleidung, bedrückend enger Wohnraum für 1,2 Millionen Einwohner als Folge des katastrophalen Wohnungsmangels - es war der Kampf um das Überleben im buchstäblichen Sinne, der den Alltag beherrschte. Mehr als 150 000 Menschen waren in von der Besatzungsmacht errichteten Wellblechbaracken, den "Nissenhütten", in Holzbaracken, in Behelfsheimen für Ausgebombte, in Wohnlauben und sonstigen Notunterkünften untergebracht. Schieber und Geschäftemacher hingegen hatten Hochkonjunktur. Auf dem schwarzen Markt war buchstäblich alles zu haben, und nicht selten handelte es sich um Diebesgut: Butter (das Pfund für 250 Reichsmark), Eier, Speck, Fleisch, Kaffee (das Pfund für 1500 Reichsmark) und sogar komplette Lebensmittelkarten, für 1000 Reichsmark pro Stück. Wichtiger als die Reichsmark war indessen die "Zigarettenwährung". Zentren des Schwarzhandels waren auf St. Pauli die Ecke Reeperbahn/Talstraße und in St. Georg der Hansaplatz. Immer wieder riegelten britische Militärpolizei und deutsche Schutzpolizei bei Razzien ganze Straßenzüge ab, doch eingedämmt wurde der schwarze Markt nicht, auch wenn Militärgerichte gefaßte Schwarzhändler zu empfindlichen Gefängnisstrafen verurteilten. Die allgemeine Devise war: Not kennt kein Gebot. Wer kein Geld hatte, um die horrenden Schwarzmarkt-Preise zu bezahlen, keine Zigaretten, keine Wertsachen zum Tauschen, wer also auf die Lebensmittelkarte angewiesen war, existierte von den amtlichen Rationen. Das waren im Sommer und Herbst 1945 knapp 1200 Kalorien pro Tag, über die damals ein bitteres und zugleich wahres Bonmot im Umlauf war: zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel (die Verpflegungssätze für die britischen Besatzungssoldaten lagen bei rund 5000 Kalorien am Tag). Rechtschaffenheit und Gesetzestreue waren existenzbedrohend. Wer nicht "organisieren" konnte, blieb auf der Strecke. Feldmarschall Montgomery hatte in seiner Botschaft vom 6. August warnend erklärt: "Der kommende Winter wird schwierig sein. Vieles muß ausgebessert und in Ordnung gebracht werden, und die Zeit ist knapp. Wir müssen mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß Mangel an Lebensmitteln, an Kohle, an ausreichender Unterkunft, an Transportmitteln und Verteilungsmöglichkeiten herrschen wird. Es ist notwendig, daß Sie sich das jetzt schon klarmachen." Das war ein Hinweis, der bei der Bevölkerung der Hansestadt seine Wirkung nicht verfehlte. Sie wurde verstärkt durch einen Zeitungsartikel vom 12. Oktober 1945 im "Hamburger Nachrichten-Blatt" der Militärregierung. In diesem Beitrag erklärte Bürgermeister Rudolf Petersen, für die privaten Haushalte stünden Kohlen im kommenden Winter nicht zur Verfügung. Jeder müsse sich selbst helfen. Die Strom- und Gasversorgung werde stark rationiert. Kein Hamburger dürfe sich auf Hilfe durch die Besatzungsmacht verlassen. Nun begannen die Menschen, sich Brennmaterial auf Vorrat zu besorgen - durch Plündern von Kohlenzügen ("Kohlenklau" nannte man das im Volksmund) und Abholzen in den Wäldern und an den Straßen. Der einzige Lichtblick war die beginnende Hilfe internationaler Organisationen, so des Schwedischen Roten Kreuzes mit der "Schwedenspeisung" in den Schulen oder die amerikanischen Care-Pakete, die Lebensmittel im Wert von jeweils zehn Dollar enthielten. Feldmarschall Montgomery warnte das britische Labour-Kabinett unter Premierminister Clement Attlee in einem düsteren Lagebericht, in der britischen Besatzungszone stünden "weit verbreitete Seuchen und Hunger" in Aussicht, wenn nicht energische Maßnahmen ergriffen würden. Diese Warnungen blieben ohne Wirkung. Nachdem die Militärregierung Ende August 1945 die Gründung von Gewerkschaften zugelassen hatte, genehmigte sie am 21. November 1945 die Bildung von vier politischen Parteien. Es entstanden die SPD, die FDP, die CDU und die KPD. Das war eine Voraussetzung für die Senatsumbildung vom Februar 1946, mit der die Besatzungsmacht die wichtigsten politischen Kräfte in der Stadt an der Regierungsarbeit beteiligen wollte. Diesem überparteilichen Senat gehörten zwölf Mitglieder an. Die CDU stellte den Ersten Bürgermeister Rudolf Petersen und weitere drei Senatoren, unter ihnen der spätere Verleger und Ehrenbürger Gerd Bucerius als Bausenator. Die SPD war mit dem Zweiten Bürgermeister Adolph Schönfelder und weiteren vier Senatoren vertreten, unter ihnen der spätere Bürgermeister Paul Nevermann als Sozialsenator und Walter Dudek als der für die Finanzen verantwortliche Kämmerer. Die FDP stellte den Verkehrssenator, während die KPD den besonders unter den Hafenarbeitern populären Friedrich ("Fiete") Dettmann für die Gesundheitsverwaltung und einen weiteren Kommunisten für das Ressort Wiedergutmachung und Flüchtlingshilfe entsandte. Zugleich berief die Militärregierung die 81 Mitglieder der ersten Volksvertretung nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, die "ernannte Bürgerschaft". Dieses Quasi-Parlament war nicht nur nach parteipolitischen, sondern auch nach ständischen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Vertreten waren dementsprechend nicht nur Parteien, sondern auch die Kirchen, die NS-Verfolgten, die Gewerkschaften, die Industrie, das Gewerbe und die Landwirtschaft. Diese Bürgerschaft trat am 27. Februar 1946 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen und verabschiedete schon am 15. Mai 1946 eine vorläufige Verfassung für das Land Hamburg als Bestandteil der britischen Besatzungszone.

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