Der Philosophie-Professor der Universität Kiel warnt davor, dass technische Hilfsmittel die Seele des Spiels von Spielzug zu Spielzug zerstören würden

Nach dem Handspiel Thierry Henrys, das Frankreich im vergangenen November den Weg nach Südafrika ebnete und die Iren aus dem Wettbewerb warf, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Ereignisse der Fußball-Weltmeisterschaft die Gelegenheit bieten würden, wieder einmal den sogenannten Videobeweis zu fordern - gestört lediglich von Günter Netzer und seinesgleichen. Einsam sind die Tapferen.

Wenn jetzt häufiger zu lesen ist, der Fußball habe Besseres verdient, als sich durch Fehlentscheidungen interessant zu machen, so klingt das wohlmeinend und freundlich, verkehrt aber die Situation. Die herkömmliche Autorisierung des Schiedsrichters, seine Augenblickssouveränität, ist viel subtiler, als der populäre, von den elektronischen Medien verstärkte Technizismus wahrhaben will. So bedeutet die viel zitierte "Tatsachenentscheidung" nichts anderes, als dass der Schiedsrichter, und nur er, die Tatsachen "schafft", wobei sein Schweigen ebenso bedeutsam ist wie der Pfiff, der seinem Urteil vorausgeht. Neben dieser durch den Schiedsrichter sanktionierten Aktualität und Unmittelbarkeit des Spiels gibt es im Fußball keine zweite oder eigentliche Wirklichkeit, die vom Medienpark erst noch ins Recht gesetzt werden müsste. Die Aktionen der Spieler und ihre Wahrnehmung durch den Schiedsrichter bilden eine geschlossene Einheit.

Diese Einheit ist autonom und bildet so etwas wie die Seele des Spiels. Sie entsteht spontan von Spielzug zu Spielzug, und wie jeder Kenner weiß, besteht die gute Schiedsrichterleistung darin, die speziellen Anforderungen des Geschehens zu erkennen und dem Spiel, je nach Situation, entweder durch wiederholtes Pfeifen Grenzen zu setzen oder es "laufen zu lassen".

In der ontologischen Grundordnung des Fußballspiels finden die spontane Unfehlbarkeit, die die Spieler und das neutrale Publikum der Schiedsrichterentscheidung zugestehen, und die Unabsehbarkeit der sportlichen Ereignisse zu ihrer Balance. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Der Videobeweis zerstört diese Balance, indem er von außen in das Spiel eingreift und die relative Souveränität des Schiedsrichters durch die absolute Souveränität der medialen Beweisführung ersetzt.

Natürlich ist ein zu Unrecht aberkanntes oder gegebenes Tor ein Ärgernis, aber dieses Ärgernis bleibt doch die Ausnahme. Wenn der Videobeweis im Fußball Einzug hält, wird jede Übertretung, wird jedes Rempeln, Ziehen, Schimpfen, Treten, Spucken auf dem Platz nicht nur lückenlos dokumentiert, sondern muss, weil aktenkundig, auch geahndet werden. Jene Einheit und Autonomie des Geschehens wäre verloren, die Kamera würde Teil des Spiels. Die Folge wäre ein Sammelsurium fragmentierter Spielphasen - das Ende des Fußballs, wie wir ihn kennen.

Im Grunde ist schon die Videoleinwand, auf der die Zuschauer im Stadion das Fernsehbild verfolgen können, ein fremdes Element, das den Ereignischarakter des Ereignisses und den Spielcharakter des Spiels durch Dauerbespiegelung infrage stellt.

Der Videobeweis verstärkt diese Tendenz. Gleichgültig gegen die Idee des Sports, bedient er das Kalkül der Medien, die das Ereignis in die eigene Regie nehmen und aus der Rolle des Beobachters in die Funktion der spielbestimmenden Instanz wechseln wollen. Statt sich rein aus sich selbst heraus zu entfalten, soll das Geschehen durch mediale Präsenz definiert sein. Das ist eine neue Qualität. Als der situationsgebundene Einzelfall, der sie ist und bleibt, wird selbst die aberwitzigste Schiedsrichterentscheidung niemals das Spiel als solches ruinieren. Anders der Videobeweis und der Veränderungswille, der sich darin ausspricht: Die systematische Kontrolle und Indienstnahme des Fußballs durch die Medien gefährden ernsthaft, was dieses Spiel in seinem Wesen ausmacht.