Besuch bei den Bewohnern im Schröderstift am Schlump. Knapp 100 Menschen leben in dem außergewöhnlichen Wohnmodell.

Hamburg. Manchmal braucht's nicht mehr als eine Weißdornhecke, um Welten zu trennen. So wie jenes Dornengestrüpp am Schlump. Auf dessen einen Seite verläuft die Schröderstiftstraße, auf der anderen liegt der Gebäudekomplex, der der sechsspurigen Straße ihren Namen gegeben hat. Auf der einen Seite rasen auf dem Asphalt die Autos vorbei, der Geruch von Sprit beschwert die Luft. Auf der anderen Seite gedeiht die Natur. Mächtige Buchen beschatten Rabatten voller Phlox und Rosen. Tauben gurren, Schmetterlinge flattern. Die Weißdornhecke trennt Verkehr von Idyll.

Doch nicht nur wegen seiner mit der Umgebung kontrastierenden Schönheit ist das 1,2 Hektar große Schröderstift-Gelände mit den auffälligen gelb-roten Klinkerbauten eine "andere Welt". Besonders ist vor allem auch die Art, wie die Bewohner hier zusammenleben. In basisdemokratischer Selbstverwaltung nämlich, und das seit 30 Jahren.

"Wir haben hier unser eigenes Dorf inmitten der großen Stadt", sagt Wittfried Malik in seinem Wohnzimmer und blickt hinaus Richtung Hecke. Der 58 Jahre alte Künstler lebt mit seiner Frau direkt neben der Stift-Kirche, die man vom Sternschanzenpark aus so gut sehen kann und hinter der sich das Geomatikum auftürmt. Das einst protestantische Gotteshaus mit dem Namen "St. Petrus der letzte Märtyrer" nutzen heute die Koptisch-Ägyptische und die Äthiopisch-Orthodoxe Gemeinde Norddeutschlands. Drum herum leben die knapp 100 "Stiftler".

Ein fünfköpfiger Vorstand leitet die Mieterselbstverwaltung (MSV)

Wittfried Malik ist einer der ersten Stunde. 1976 sei er ins Stift eingezogen, "damals schon seit fünf Jahren kein Alten-, sondern ein Studentenheim", erzählt der angegraute Mann mit dem konstanten Lächeln im Gesicht. Er sei einer jener "Langhaarigen" gewesen, die das Stift hätten erhalten wollen. "Wir bekamen von der Stadt immer nur Jahresverträge, alles war auf Abriss programmiert. Kein Wunder - gab's doch bloß Kohleöfen und Klos, und die auch nur im Keller, Duschen gar keine", erinnert sich Malik. "Zudem waren die Gebäude teils baufällig. Wegen Löchern im Dach war zum Beispiel das Gebälk mal voller Schwammpilz."

Doch das Schröderstift aufgeben wollten Wittfried Malik, der seinerzeit Mathematik und Geografie studierte, und seine Kommilitonen nicht. "Es war einfach zu schön, eine architektonische Perle eben, umgeben von einem wunderbar grünen Areal." Also engagierten sich die damaligen Studenten mit Plakaten und Flugblättern für den Erhalt. Schließlich gründeten sie 1981 die Mieterselbstverwaltung (MSV) und schlossen mit der Stadt einen bis 2016 gültigen Leihvertrag ab, wonach die Studenten die noch bestehenden Stiftgebäude renovieren, in ihnen wohnen bleiben und sie eigenständig verwalten durften. Das autonome Wohnprojekt war geboren.

"Das ging damals ziemlich unkompliziert", erzählt Malik. "Es war die Zeit der Hafenstraßen-Krawalle - da waren die Hamburger Offiziellen wohl froh, dass wir am Schlump nichts anderes wollten, als friedlich und schön zu wohnen. Einmalig bekamen wir sogar eine öffentliche Förderung von 869 000 D-Mark für die Grundsanierung."

+++Schröderstift: Das Dorf mitten in der Stadt+++

Seither hätten die Stiftler Unmengen an Restaurierungen in ihr Zuhause gesteckt, sagt Wittfried Malik, Bäder und Heizungen eingebaut und die einfachen Glasscheiben gegen echte Fenster ausgetauscht. Sie seien eben Handwerker und keine Hippies, trotz des Kommunen-Hauchs. Malik, jetzt draußen vor seiner weinumrankten Haustür, zeigt aufs Mauerwerk: "Dahinten haben wir vor ein paar Jahren die Ziegel erneuert und hier vorne wollen wir das bald tun."

Maßnahmen wie diese werden im Schröderstift vom MSV-Vorstand beschlossen. Dieser wird jährlich auf der Vollversammlung aller Bewohner gewählt, im großen Gemeinschaftsraum, wo die Stiftler auch zum Klönen oder Kochen zusammenkommen. Stiftler wie Kristina Seefeld. Die 55-jährige Erzieherin wohnt seit 1985 im Schröderstift. "Mir gefallen hier die Unbeschwertheit und der Freigeist", sagt sie auf der von Gebüsch umwucherten Wiese hinter der Stift-Kirche. "Jeder kennt jeden. Jeder packt mit an, wenn's darum geht, unser Zuhause in Schuss zu halten. Die für Großstädte oft so typische Anonymität und die damit verbundenen Animositäten gibt es hier nicht."

Hier wegziehen, hier, wo man sein Fahrrad auch mal ohne Schloss stehen lässt? Kristina Seefeld und Wittfried Malik neben ihr schütteln den Kopf. "Kommt nicht infrage." Diese Antwort dürfte Seefelds Enkel Leon gefallen. Der Siebenjährige sitzt in Sichtweite auf einer Schaukel und schnitzt ein Holzmesser. "Oma hat's voll schön hier", sagt er, "die wohnt auf einem Super-Abenteuerspielplatz."

Der könnte jedoch bald Geschichte sein. Denn die Stadt plant erneut eine Uni-Erweiterung "und will dafür womöglich diese Wiese nutzen", sagt Wittfried Malik. Der Leihvertrag der MSV gelte nämlich nur für die Gebäude und das Gelände zur Schröderstiftstraße hin, nicht aber für das zum Geomatikum. "Das Gebüsch verwalten wir nur", sagt Malik, "und zwar seit den 80er-Jahren nach Absprache mit der Uni."

Falls diese Absprache demnächst nicht mehr gelten sollte, könnte Leons Abenteuerspielplatz verschwinden. Die Schaukel müsste weichen, die Feuerstelle dort auch, das Baumhaus ebenfalls. "Das wollen wir verhindern", sagen Wittfried Malik und Kristina Seefeld unisono, und die hinzugekommen Nachbarn, der Student Julian Simon, 25, und der Veranstaltungstechniker Robert Merges, 56, nicken. Alle sind sich einig: "Dieses Kleinod von Naherholungsgebiet muss erhalten bleiben."

Doch bevor die Stiftler den ja erprobten Kampf für ihr Idyll womöglich von Neuem beginnen, wollen sie erst einmal feiern: am 19. und 20. August, den 30. Geburtstag ihrer Selbstverwaltung. Viel Live-Musik soll's dann geben, so wie immer bei den jährlichen Gemeinschaftsfeten, zu denen in den 80er-Jahren auch Rocksängerin Nina Hagen mal vorbeikam. "Zu dieser Party", sagt Wittfried Malik, "laden wir ganz Hamburg ein." Jeder solle sehen, wie schön es im Schröderstift sei. Im Dorf in der Stadt, hinter der Weißdornhecke, wo die Luft nach Phlox riecht und nicht nach Abgasen.