Die Wohnung liegt im Erdgeschoß eines roten Klinkerbaus in Barmbek. Die Nachlaßpflegerin Christina Spengler-Sadkowski (49) öffnet die Tür, vorsichtig und langsam. Auf dem hellen Laminatfußboden im Flur liegen an die 20 Prospekte, durch den Türschlitz von außen reingeworfen. Die Luft schmeckt staubig, und es ist still. Die Nachlaßpflegerin bewegt sich aufmerksam. Wie zu Besuch bei Fremden, die jeden Moment zurückkommen können. Doch zu dieser Wohnung im Erdgeschoß kommt niemand mehr. Das große Schlüsselbund, mit dem sie aufgeschlossen hat, steckt sie von innen in die Tür und flüstert fast: "Damit ich es beim Verlassen der Wohnung gleich wiederfinde."
Sie hat darum gebeten, sich unauffällig zu verhalten, damit die Nachbarn nichts merken. Denn ihr Kommen erinnert an eine unangenehme Sache, an das Ende, an den Tod. "Ich bin an den Tod gewöhnt, für mich gehört der Tod zum Alltag, aber die meisten Menschen haben vielleicht nur ein paar Tage in ihrem ganzen Leben damit zu tun." Die Nachlaßpflegerin in blauer Windjacke und Jeans geht in Ecco-Halbschuhen voran.
Ende November, einen Tag vor ihrem Geburtstag, ist die 94 Jahre alte Frau im Krankenhaus gestorben. Bis dahin hatte der Pflegedienst das Nötigste in der Wohnung erledigt und sie versorgt. Nun ist es die Aufgabe der auf Erbrecht spezialisierten Rechtsanwältin, der älteren Dame die letzte Hilfe zukommen zu lassen, die sie noch braucht posthum.
Eine Hilfe, die nichts mit Putzen, Waschen oder Körperpflege zu tun hat. Die Nachlaßpflegerin wurde vom Gericht eingesetzt, weil es ein Erbe gibt, aber keine Erben. Und auch sonst niemanden, der sich um die Angelegenheiten der Toten kümmern könnte. Diese Frau, die einmal Sekretärin war und mehr als 30 Jahre lang allein in der kleinen Zweizimmerwohnung wohnte, hat auf ihrem Konto eine halbe Million Euro, aber niemanden, der den Sarg aussucht, der ihre Trauerfeier organisiert oder sich beim Auflösen der Wohnung noch einmal die alten Fotos anguckt.
Manchmal ist Christina Spengler-Sadkowski die einzige und letzte, die sich Familienfotos und Schnappschüsse in sorgfältig geführten Alben anschaut - doch nur, um Hinweise zu erlangen. Alles, was sie antreibt in den Wohnungen, ist die Suche nach Verwandten, nach möglichen Erben. Einmal hat sie zu genau hingeschaut, in ein Küchenschränkchen. Dort lag eine Tafel Milka-Schokolade. Diese Sorte bekommt sie seither, obwohl sie, wie sie sagt, Schokolade liebt, nicht mehr runter.
Wie oft Nachlaßpfleger in Hamburg eingesetzt werden, ist nicht bekannt. "Die Anzahl der Nachlaßpflegschaften steht nicht fest, da sie nach den gesetzlichen Vorgaben weder in eigenen Statistiken noch in gesonderten Registern zu erfassen sind", erklärt Sabine Westphalen, Sprecherin des Hamburgischen Oberlandesgerichts. Die Nachlaßpflegschaften fallen in ein Register verschiedener Nachlaßhandlungen, von denen es im vergangenen Jahr 12 127 gab.
Spengler-Sadkowski betritt bereits zum zweiten Mal die Wohnung der Rentnerin. "Beim ersten Mal würde ich nie jemanden mitnehmen, aus Respekt vor den Toten." Sie ist bei allem, was sie sagt, sehr bestimmt und bemüht sich um größte Korrektheit. Auch in dem, was sie tut, denn davon hängt ab, ob sie weitere Aufträge vom Gericht bekommt. Sie führt das unter Juristen sehr beliebte Amt seit mehr als zehn Jahren aus. Es gibt 7500 Rechtsanwälte in Hamburg, nicht alle haben eine Kanzlei, viele sind arbeitslos, da gibt es viele Bewerber auf Nachlaßpflegschaften.
Der Laminatboden der Wohnung ist neu und wurde vom Pflegedienst verlegt. "Das ist einfacher zu reinigen als Teppichboden", so etwas werde häufig in Wohnungen von Pflegebedürftigen gemacht. Die meisten Möbel der Wohnung sind alt, aus den 50er Jahren. Wie das dunkle kleine Schränkchen im Flur, die Schubladen sind geöffnet, Handschuhe und leere Portemonnaies lugen heraus. Spuren des ersten Durchgangs ihrer Suche. Ihren schweren silbernen Metallkoffer stellt die Nachlaßpflegerin auf das Sofa im Wohnzimmer. Dort liegen bereits geöffnete Handtaschen. "Das mag etwas wüst aussehen, aber ich muß alles durchsehen, um vielleicht ein Testament, Briefe oder persönliche Notizen zu finden, die Rückschlüsse auf Verwandte geben." Die Wohnung ist karg eingerichtet, "typisch für einen solchen Fall", meint die Nachlaßpflegerin. Sie ist in den Jahren auch Expertin für das Wesen der Einsamkeit geworden. Sie berichtet von der toten Frau: Sie war alleinstehend und hatte keine Kinder. 1952 ist sie mit ihren Eltern in die Wohnung gezogen. Dort lebte sie, nach dem Tod des Vaters im Jahr 1964 und der Mutter 1974, allein. Sie war Mitglied bei den Johannitern und hat regelmäßig gespendet. Die Wohnung der Toten sei bezeichnend, so Spengler-Sadkowski, für ein bescheidenes, zurückgezogenes Leben. Im Wohnzimmer gibt es keinen Tisch, an dem man hätte Kaffee trinken können, keine Bilder an der Wand, und vor dem Fenster steht ein noch behängter Wäscheständer. Ein neuer Fernseher ist gegenüber vom Sofa, der alte steht auf einem Aktenschrank. Ein Rollstuhl steht noch mitten im Raum, und im Bücherregal verstauben ungelesene Romane "Eine unglückliche Ehe" von Konsalik oder noch in Plastik verschweißt "Verlorene Spuren" von Danielle Steel - sie war wohl Mitglied in einem Bücherklub.
"Nicht immer kommt man so leicht durch eine Wohnung wie bei dieser hier", einmal habe sie erst als sie vor dem Haus stand, gemerkt, daß es noch ein weiteres Zimmer in der Wohnung gab. "An einem zusätzlichen Fenster. Von drinnen war eine Tür nicht zu erkennen, ein Schrank stand davor."
Die Nachlaßpflegerin hat sich weiße Einmal-Plastikhandschuhe übergezogen und geht ins Badezimmer, sie sucht den zweiten Wasserzähler. In der Dusche wird sie fündig. Sie beugt sich über einen Stuhl, Windeln und ein Luftkissen. "Das soll das Wundliegen verhindern", erklärt die Juristin. Zwischen ihrem ersten und zweiten Besuch in der Wohnung hat sie Strom, Wasser und Gas abgemeldet. Aber auch Versicherungen, Verträge und Abonnements gekündigt. An Standesämter, Kirchenbuchämter, Staatsarchive und an den Suchdienst vom Deutschen Roten Kreuz geschrieben.
Ihre Aufgabe ist es, neben der Sicherung des Erbes, Verwandte der Toten zu ermitteln, und da ist sie sich sicher: "Ich finde sie auch!" Bisher sei es selten vorgekommen, daß sie niemanden hätte ausmachen können. "Ich verfolge Spuren bis in die vierte Erbordnung zurück." Manchmal verfaßt sie Erbenbilder, die über mehrere Seiten gehen. Darauf ist sie stolz, auf ihre ausführliche Arbeit und darauf, daß sie noch etwas für die Toten tun kann.
Wenn Spengler-Sadkowski Geld findet, aber wirklich keine Erben, fällt das Geld, nach Abrechnung ihrer Arbeitsstunden, dem Fiskus zu. Sie sagt, daß ihr das erst in einem halben Prozent aller Fälle passiert sei. Der Staat profitiert also indirekt von alleinstehenden und einsamen Menschen. "In einem Fall habe ich mal festgestellt, daß ein Vater über Jahre versucht hat, seine im Krieg verlorenen Töchter zu finden, aber es nicht geschafft hat." Erst sie, die Nachlaßpflegerin, konnte die Töchter, seine Erbinnen, finden. "Für ihn persönlich war das zu spät, er war ja schon tot." Sie ist ein bißchen traurig darüber. "Manchmal wünschte ich, die Leute würden früher professionell nach ihren Verwandten suchen lassen oder den Kontakt erst gar nicht abbrechen."
Doch gerade in Großstädten nimmt die Vereinzelung zu. Das merken auch die Bestattungsunternehmen. "Immer mehr Menschen sterben einsam, wobei vorab nicht geklärt wurde, wer die Kosten für eine Beerdigung übernimmt", sagt Wolfgang Litzenroth (48), Geschäftsführer der Großhamburger Bestattungsinstitute. Gerade in Zeiten knapper Kassen hielten sich Angehörige zurück und scheuten die finanzielle Verantwortung einer Beerdigung. Eine Verantwortung, die die Toten ihren Verwandten hätten rechtzeitig nehmen können, hätte sie nur jemanden zu Lebzeiten gefragt, wie es um ihre finanzielle Situation bestellt ist.
Die alte Frau aus dem Klinkerbau wurde inzwischen begraben, Spengler-Sadkowski hat das Grab der Eltern gefunden und sie dazulegen lassen. Zu der Trauerfeier kamen ihre Nachbarn. Die 50er-Jahre-Möbel sollen demnächst von einem Räumungsunternehmen abgeholt werden, und Dinge von Wert werden versteigert. Christina Spengler-Sadkowskis Suche nach den Erben hat gerade erst begonnen.
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