Joachim Mischke
Hamburg
Normalerweise genügen Handzeichen oder Blicke und hin und wieder eine deutliche Ansage, mit viel Stütze gesprochen, damit man sie auch noch in der meterweit entfernten Tiefe des Bühnenbilds hören kann. Doch als eines Abends, im ersten "Turandot"-Finale, eine Sängerin nervös wurde und vorschnell lossang, wurde Anna Bergamo handgreiflich. Sie zupfte den nächstbesten Sänger am Hosenbein, um ihn wieder auf Linie zu bringen.
Sänger und Dirigenten altern in solchen Schrecksekunden schlagartig, doch die gebürtige Mailänderin klingt nur amüsiert, während sie davon erzählt: "Dieser Lawineneffekt zieht alle mit. Aber das ist dann mein großer Auftritt - wie ein Fluglotse die notwendigen Zeichen geben: Jetzt bistdu dran; wart mal ab, ich hol dich gleich wieder rein . . . " Die dramatische Rettungsaktion gelang, der Abend endete so harmonisch, wie er in der Puccini-Partitur steht.
Normalerweise läuft Anna Bergamos Arbeitsalltag als einer von zwei Souffleusen der Hamburgischen Staatsoper jedoch etwas weniger spektakulär ab. Zu ihrem Job kam sie durch reinen Zufall. Bis Oktober 1994 war sie Ballett-Tänzerin mit Engagements in London, Nizza oder Monte Carlo. Ein Bühnenunfall bedeutete das Aus für diese Karriere. Sie wechselte aus dem Rampenlicht ins Souterrain, in den engen, mitunter auch staubigen Souffleusenkasten. Pauken und Bässe spürt man dort körperlich, ein Monitor sorgt dafür, dass sie sehen kann, was der Dirigent hinter ihrem Rücken macht. Dabei reicht es keineswegs, dass sie immer nur brav mitspricht, was im Textbuch steht. Anna Bergamo, die ihren ersten Job als Souffleuse 1995 in Bonn erhielt und von dort nach Hamburg wechselte, ist möglichst von der ersten Probe an dabei, um außer der musikalischen auch sprachliche Sicherheit zu gewinnen. Dirigenten und Korrepetitoren können ihr so schnell nichts vormachen, sie ist ausgebildete Pianistin und Chorleiterin. Mit italienischen Opern hat sie naturgemäß keinerlei Sprachprobleme. Auch Opern in Französisch, Englisch und Deutsch sind f ür sie einfach, sie hat Romanistik, Anglistik und Germanistik studiert, ihre Doktorarbeit befasste sich mit Shakespeare an deutschen Theatern in der Nachkriegszeit. Bei slawischen Werken wirds allerdings eng.
"Als ,Boris Godunov' dran war, habe ich den Sängern gesagt, bei Problemen sollten sie einfach einen Takt lang ,Kalinka, Babuschka' singen, dann merke ich schon, dass mit dem Text etwas nicht stimmt." Zur Anwendung kam dieser Trick nur selten, aber die Nerven beruhigte er trotzdem.
Was ist wichtig beim Soufflieren? "Man muss den Sängern ein Gefühl der musikalischen Sicherheit geben", erläutert sie, "die Textlücke, in der die Souffleuse einspringt, ist eher die Ausnahme. Falls jemand eine Pause vergisst oder die Eins nicht mehr sieht, müssen die Sänger wissen, dass jemand da ist, der sie wieder reinbringt oder sie stoppt." Grundsätzlich muss man der Musik immer einen Schlag voraus sein, doch auch das ist relativ, wichtig sei vor allem, das richtige Rhythmus-Gefühl zu geben. Eine Besonderheit des Hauses sei es, immer alle Einsätze mitzugeben. Gerade bei manchen Gastdirigenten oder kurzfristig eingesprungenen Sängern kann dieser Service extrem wichtig werden, damit aus dem Wackeln kein Umfallen wird.
Lampenfieber kannte sie bislang nicht, behauptet sie. Bei Jürgen Flimms Inszenierung von Strawinskys "Rake's Progress" allerdings war sie doch etwas aufgeregt: Sie saß gut sichtbar im Orchestergraben. "Dann kann man weniger machen, das ist kontraproduktiv." Mit anderen Worten: Es macht weniger Spaß. Bei der Frage nach ihren Favoriten muss Frau Bergamo nicht lange überlegen. "Ich liebe alles Italienische. Aber bei einer Wagner-Oper stundenlang im Graben zu sitzen, das ist Folter, echter körperlicher Schmerz."
Früher hat sie als Ballett-Tänzerin gearbeitet - und sie ist ausgebildete Pianistin und Chorleiterin.
"Bei Problemen einfach ,Kalinka, Babuschka' singen, dann merke ich schon, dass etwas nicht in Ordnung ist."
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