Nach 35 Jahren geht der Amtsrichter in den Ruhestand - mit einer kritischen Bestandsaufnahme der Hamburger Justiz

Richter Beyer: Die Urteile werden immer schlechter!

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Von RALF NEHMZOW

35 Jahre hat er über Menschen zu Gericht gesessen: Er hat sie freigesprochen, zu Geldstrafen verurteilt oder sie ins Gefängnis geschickt. Vom Schwarzfahrer bis zum Räuber. Ein Traumberuf? "Ich habe den Richterberuf gerne ausgeübt und würde ihn heute wieder wählen", formuliert Amtsrichter Harm Beyer. Der 65 Jahre Rechtsprecher, der immer wieder mit harten Urteilen und markigen Worten von sich reden machte, geht Ende Mai in den Ruhestand. Am Freitag ist sein letzter Verhandlungstag.

"Wenn ich jetzt gehe, dann nicht mit Tränen in den Augen", sagt Beyer, während er sich gemütlich in seinem Stuhl im Arbeitszimmer zurücklehnt. Dort lagern die Akten zum Teil in Umzugskartons. 35 Jahre Richter - Beyers Blick zurück auf die Justiz ist auch eine Abrechnung mit ihr. Aktenberge, Personalengpässe: "Ich habe den Eindruck, dass die Bürger immer unzufriedener sind mit Einzelfallentscheidungen", analysiert der Alt-Richter. Die Lage sei ernst. Die Qualität der Urteile würde auf Grund der hohen Verfahrensbelastung immer schlechter, stellt er kritisch fest. "Die Fehlerquote wird immer größer, die Einzefallgerechtigkeit bleibt oft auf der Strecke."

Es würden zuweilen in der Eile Strafen verhängt, die zu hoch oder zu niedrig seien, klagt Beyer. "Die Justiz entwickelt sich zu einem reinen Regelungsbetrieb."

"Im Namen des Volkes" werden Urteile verkündet. Beyer ist ein Mann aus dem Volk. Im Karolinenviertel wuchs er auf, "damals, als es noch gutbürgerlich war", sagt er. Mit drei Geschwistern, die Eltern waren Lehrer. Der Vater starb 1942 im Krieg. "Lehrer wollte ich nicht werden, da die ganze Familie mit Lehrern versippt war", sagt Beyer. Er wurde Jurist, "weil man als Jurist so viele Möglichkeiten hat".

Nach zwei Staatsexamina mit Prädikat und Referendariat arbeitete er ein paar Monate als Anwalt. Dann wurde er Richter. Nach Stationen im Zivilrecht fand er bald seine Heimat im Strafrecht. Ende der 60er-Jahre war er Jugendrichter. "Dort bin ich nach anderthalb Jahren frustriert weggegangen, weil mir dort die Ansichten über Konsequenzen und Strenge nicht gefallen haben. Ich denke, wenn man Konsequenzen androht, muss man sie auch ziehen. Das ist ein Nachteil bei einem Großteil von Kollegen: Die ziehen zu wenig Konsequenzen", sagt er energisch.

Beyer zog stets als Wirkungsfeld die gerichtliche Tatsacheninstanz vor, die Basis. Als jemand, "der die Distanz zwischen der Institution Gericht und den Angeklagten ausgleichen will". Als ein Gefangener einem Mithäftling über Richter Beyer schrieb: "Der ist streng, aber du weißt, woran du mit ihm bist", freute Beyer sich. "Streng, aber fair", so sehe er sich. "Ein milder Richter war ich nicht." Er ist sich bewusst: "Ein Richter hat unheimlich viel Macht, und damit muss er verantwortungsvoll umgehen."

Nicht immer fanden Beyers Urteilsbegründungen nur Zustimmung: Einmal sagte er einer Mutter, die Sozialhilfe erschlichen hatte, barsch: "Sie machen immer nur so: Raff, raff." Dabei ließ er seine Arme in der Luft kraftvoll kreisen. Er fragte sie, ob sie eigentlich nach so einer Straftat nachts noch ruhig schlafen und ihre Kinder erziehen könne. Kollegen bastelten daraus später ein Theaterstück, das sie aufführten.

Oder: Als Medien berichteten, Beyer habe einmal in einem Prozess einen Angeklagten "Abschaum" und "Dreck" genannt, gab es öffentliche Proteste. Beyer dementiert: "Was da geschrieben wurde, das habe ich so nie gesagt." Ihm ist wichtig: "Ich will die Angeklagten erreichen. Sie sollen begreifen, warum sie sich strafbar gemacht haben." Da sei bisweilen nicht die intellektuelle Hochsprache gefragt, sondern einfache Worte seien oft wichtig, die Angeklagte verstehen. Beyer über Beyer: Natürlich mache er Fehler wie andere auch: "Man muss aber mit a l l e r Mühe versuchen, keine zu machen, deswegen ist mein Gewissen rein." Beyer über den Richterjob: "Nirgendwo sonst lernt man so viele Menschen aus so vielen Gesellschaftsschichten kennen."

Wenn er nun in den Ruhestand geht, "falle ich in kein tiefes Loch", sagt Harm Beyer lachend. Die Liste seiner Hobbys ist lang: Er liebt Opern, Konzerte, Ballett. Und die Insel Sylt. Mit Ehefrau Marli will der mehrfache Familienvater mehr Zeit verbringen. Sie hat in der Dorotheenstraße (Winterhude) ein Tee-Fachgeschäft. Dann ist da noch seine Begeisterung für den Schwimmsport. Jahrelang war er Präsident des Deutschen Schwimmverbandes, von 1984 bis 1996 auch Präsident des Welt-Schwimmverbandes. Ehrenamtliches Engagement, das ihn bei Events um den Erdball führte. Derzeit organisiert er die Schwimm-Eurpameisterschaft für das Jahr 2002 in Berlin.

Strafrichter Beyer geht. Doch: Der ehemalige Olympia-Kampfrichter verabschiedet sich nicht ganz vom Richterdasein. Bei den schwarzen Schafen unter den Schwimmern wird er weiter richten - als Vorsitzender des Verbandsgerichts für Dopingfälle.

"Die Bürger sind immer unzufriedener mit Entscheidungen. Die Lage ist ernst. Auf Grund der hohen Verfahrensbelastung werden in der Eile schon mal Strafen verhängt, die nicht mehr gerecht sind." Harm Beyer

"Ich war auch mal Jugendrichter. Dort bin ich nach anderthalb Jahren frustriert gegangen. Ich denke, wer Konsequenzen androht, muss sie auch ziehen. Das vermisse ich." Harm Beyer

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