Hamburg - Die Tage, in denen Hans Werner Henze als "Junger Wilder" durchging, sind vorbei. Inzwischen gehört er zu den Erlauchten der zeitgenössischen Musik und gilt mit Karlheinz Stockhausen als einer der wichtigsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts. An diesem Wochenende gratuliert die NDR-Konzertreihe "das neue werk" dem Altmeister der Moderne zum 75. Geburtstag am 1. Juli: Am Freitag wurde das NDR-Auftragswerk "Scorribanda Sinfonica", dirigiert von Hamburgs ehemaligem Opern-Intendanten und Henze-Schüler Peter Ruzicka, uraufgeführt; am Sonnabend wird Kammermusik im Rolf-Liebermann-Studio vorgestellt.
ABENDBLATT: Wenn Sie, wie bei dieser Gelegenheit, Werke hören, die Jahrzehnte alt sind, reizt es Sie dann, sie zu korrigieren?
HANS WERNER HENZE: Nein, nein. Ich denke, dass man im Laufe der Entwicklung des Lebens und der eigenen Kompositionstechnik weiß, wie man darstellt, was man darstellen möchte. Ich müsste mich ja auch nicht täglich brav zum Komponieren hinsetzen. Aber ich tue es. Es amüsiert mich, es macht mir Freude. Als ob man ins Ausland geht, für drei, vier Stunden. Dieses Metier ist ein sehr schweres . . .
ABENDBLATT: . . . und es wird mit der Zeit nicht einfacher?
HENZE: Ganz im Gegenteil.
ABENDBLATT: Wächst die Angst vor dem Selbstzitat?
HENZE: Das auch.
ABENDBLATT: Haben Sie sich schon mal beim Abschreiben bei sich selbst ertappt?
HENZE: So weit habe ich es noch nicht gebracht. Strawinsky hat einmal zu einem jungen Komponisten gesagt: ,Hier habe ich mich wiederholt. Wir klauen alle, wichtig ist nur, dass wir bei anderen klauen, sonst würden wir keine Fortschritte machen.'
ABENDBLATT: Sie arbeiten momentan an einer Oper für die Salzburger Festspiele?
HENZE: Ja, es geht darin um die Liebe, nicht die frühlingshafte zwischen jungen Menschen, sondern um die zwischen Vater und Sohn. Uraufführung ist 2003, sie hat neun Szenen, viereinhalb habe ich. Ein ordentlicher Schnitt.
ABENDBLATT: Warum schreiben Sie das Libretto selbst?
HENZE: Ich hatte immer einen sehr großen Respekt vor der Literatur, vor den Dichtern, die etwas für mich geschrieben haben. Aber ich dachte mir, wie schön es wäre, eine musikalische Phrase das sein zu lassen, was sie ist - und einfach den Text zu ändern. Bei Librettisten muss man dafür immer nachfragen, so habe ich einen kurzen Dienstweg.
ABENDBLATT: Ihre 10. Sinfonie ist vollendet. Wie fühlt man sich, wenn man die schicksalsträchtige Zahl 9 überstanden hat?
HENZE: Sehr froh. Bei der Uraufführung der 9. meinte einer der Anwesenden ,Eine 9. von dir und keine 10., das ist ja furchtbar - hiermit gebe ich dir den Auftrag dafür.' Sie wird bald von Simon Rattle in Luzern aufgeführt.
ABENDBLATT: Sie haben sich in zahlreichen musikalischen Genres betätigt, vom Lied über Kammer- und Filmmusik bis zur Oper. Gibt es Kapitel, mit denen Sie abgeschlossen haben?
HENZE: Nein, ich möchte zum Beispiel irgendwann ein weiteres Streichquartett schreiben.
ABENDBLATT: Sie waren einer der wichtigsten Protagonisten der Neuen Musik im Nachkriegsdeutschland. Ist dieses Engagement erfolgreich gewesen, sind Sie mit Ihren Ansprüchen gescheitert, wo sehen Sie die Avantgarde heute?
HENZE: Jener Teil der Neuen Musik, der das Engagement junger Kollegen fordert, hat mit Erziehung zu tun. Doch dieser Aspekt wird sehr stark vernachlässigt. Man muss die Kompositionskunst in die Schule einbeziehen, wie Geometrie oder Grammatik.
ABENDBLATT: Was würden Sie einem jungen Komponisten raten: sich lieber für den Taxischein anmelden oder weitermachen?
HENZE: Mein Gott, es ist so leicht für uns Alten, immer wieder auf unser Elend von damals hinzuweisen. Das liegt mir nicht. Ich finde nicht, dass junge Künstler ein unbequemes Leben führen müssen, damit sie geniale Sachen von sich geben.
ABENDBLATT: Sie galten und gelten als politischer Künstler, haben sich immer für die Linke engagiert und sind deswegen oft angegriffen worden.
HENZE: Was ist ein politischer Künstler, Gottsakrament? So nenne ich mich nicht.
ABENDBLATT: . . . also ein politisch denkender Mensch, der künstlerisch tätig ist?
HENZE: Das ist okay.
ABENDBLATT: Für das NDR-Festival haben Sie eine Auftragsarbeit komponiert. Haben Sie noch Lampenfieber vor einer solchen Uraufführung?
HENZE: Das ist längst vergessen - jetzt gibt es nur noch Neugier, ob es so klingt, wie ich es gewollt habe. Ich lasse mich auch gern mal überraschen.
ABENDBLATT: Wo werden Sie Ihren Geburtstag verbringen?
HENZE: Am 1. sitzen wir im Flieger nach Rom, am 6. kommen zehn Ex-Schüler, am 8. werden einige Kompositionen, die sie für mich geschrieben haben, in einem Konzert gespielt. Lauter Serenaden für den Alten . . .
ABENDBLATT: Wie geht es Ihnen damit, dass gerade Hamburg Sie in diesem Jahr ,wieder entdeckt' und ausgiebig ehrt?
HENZE: Offensichtlich hängt es von zwei mir befreundeten Musikern ab - von Ingo Metzmacher und Peter Ruzicka. Die haben beschlossen, dass es meine Musik verdiene, hier mehr gehört zu werden. Die Aufführung von ,Medusa', wurde mir berichtet, hat einen guten Eindruck gemacht.
ABENDBLATT: Mehr als das. Das Publikum war begeistert.
HENZE: Das freut mich ganz besonders. Wer hätte das gedacht. Damals dieser Skandal und die damit verbundene, auch professionelle Demütigung, organisiert von Feindeshand, das kann man jetzt wohl sagen . . .
ABENDBLATT: Ist dieser späte Erfolg eine Genugtuung?
HENZE: Ja. Eine künstlerische und moralische Genugtuung. (Pause) Stellen Sie sich mal vor, ich hätte vorher schon das Zeitliche gesegnet und hätte dies nicht erlebt. Dass ich Recht hatte, wusste ich damals schon. Außerdem habe ich eine große Charakterschwäche: Ich bin sehr stolz.
Interview: Joachim Mischke
Sonnabend, 17 Uhr, Rolf-Liebermann- Studio: Kammermusik I, u. a. "Cimarro n". 19 Uhr: Constantin Floros' Vortrag "Hans Werner Henze in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts". 20.30 Uhr: Kammermusik II, u. a. "Being Beateous", gespielt von Mitgliedern des NDR-Sinfonieorchesters. Das komplette Interview im Internet unter www.abendblatt.de
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